Historische und politische Entwicklung in Madagaskar

Madagaskar ist reich an Geschichte und Geschichten. Trotzdem ist das Land arm an politischer Strukturierung und an wirtschaftlicher Kraft. Die Gründe dazu sind vielfältig.

Madagaskar löste sich vor 160 Millionen Jahren von Gondwanaland. Vor rund 1500 Jahren setzte der erste Mensch seinen Fuss auf die Insel, gefolgt von Einwanderungswellen aus dem fernen Indonesien, aus Afrika und dem Nahen Osten. Diese unterschiedlichen Einflüsse formten im Laufe der Jahrhunderte ein vielschichtiges kulturelles Konglomerat. In allen Landesteilen kristallisierten sich jedoch ähnliche Strukturen heraus. Ein Lokalchef dominierte den Umkreis seines Dorfes, die Ahnenverehrung nahm eine allgegenwärtige Position ein und die Gesellschaft war geschichtet: Noble, Freie, Sklaven. Reis war nicht nur das Hauptnahrungsmittel, sondern hatte eine mythische Bedeutung.

Madagaskar, 14mal grösser als die Schweiz und sprachlich homogen, war in den vergangenen Jahrhunderten nie geeint. Die Dörfer führten andauernde Kleinkriege, einerseits bedingt durch den Bevölkerungsdruck, meist aber, um das Prestige des Lokalchefs zu erhöhen. So entstanden und erloschen zahlreiche kleinflächige Königreiche. Zur Zeit von Napoleon setzte sich Andiranampoinimerina als Zentralherrscher in der Region der heutigen Hauptstadt Antananarivo durch. Sein kriegerischer Sohn Radama I dehnte seinen Einfluss bis an die Ostküste aus, bis nach Westen und weit in den Süden. Seine Thronerben - alles Königinnen (ausser Radama II) - kontrollierten nach zahlreichen Feldzügen rund 80% der Landesfläche. Dann marschierten 1895 die Franzosen ein.

Frankreich hatte schon seit dem 17. Jahrhundert mit der Inbesitznahme Madagaskars geliebäugelt. Doch die madagassischen Herrscher spielten die französischen Interessen gekonnt gegen jene der Briten aus. Ein nichtiger Grund veranlasste die Franzosen zum Einmarsch, nachdem es schon Jahre vorher ein paar Kanonengeplänkel gegeben hatte. Als einer der wichtigen Entscheide hob der erste Generalgouverneur Laroche die bis dahin praktizierte Sklaverei auf. Mit einem Federstrich wurde - je nach Schätzung - ein Drittel bis Dreiviertel der Bevölkerung frei. Sein Nachfolger Galliéni, ein erfahrener Militäradministrator, diktierte dem Land einen zügigen Fortschritt auf. Er baute Strassen, Eisenbahnen, Spitäler und Schulen. Und er sorgte für Ruhe unter den Soldatenstiefeln.

Madagaskar wurde zu einer blühenden, sich selbst ernährenden Kolonie. Nebst den Kolonialprodukten (Pfeffer, Vanille, Nelken und Kaffee) wurde auch Reis exportiert, zudem Bodenschätze wie Graphit und Mica. Es gab auch Schattenseiten. Das Schulsystem war vollkommen auf Frankreich ausgerichtet. Die Madagassen hatten keinen Zugang zu politischen Rechten und nur beschränkt zu administrativen Posten, worunter nicht nur der Dichter Jean-Joseph Rabearivelo litt. Zudem schlugen die Franzosen mehrere Aufstände brutal nieder, so die Erhebung von 1947.

Schon vor und vermehrt nach dem Zweiten Weltkrieg forderten Nationalisten mehr Eigenbestimmung. Madagaskar wurde am 26. Juni 1960 nach 64 Jahren Kolonialherrschaft ein souveräner Staat. Die Republik übernahm eine intakte Infrastruktur, ausgebildete Leute und eine funktionierende Wirtschaft. Die Franzosen blieben als Berater und Verwalter im Land. Diese franzosenfreundliche Politik des Präsidenten Philibert Tsiranana wurde zunehmend kritisiert, ebenso wie die Besetzung von Posten mit treuen Parteianhängern. Studenten brachten die Regierung zum Kippen, als sie am 13. Mai 1972 unter anderem den Ersatz von Schulbüchern (Inhalt: unsere Vorfahren, die Gallier) forderten.
Es folgten jahrelange Fraktionskämpfe innerhalb der Armee, aus denen schliesslich der Offizier Didier Ratsiraka 1975 als Sieger hervorging. Er liess seine 'Charta der sozialistischen Revolution' vom Volk absegnen, verstaatlichte den Grossteil der Betriebe und schwenkte seinen politischen Kurs in Richtung UdSSR und später Nordkorea. Ratsiraka warf die Franzosen aus dem Land und trat aus der französischen CFA-Währungsunion aus. Kostspielige Mammutprojekte sollten in eine wirtschaftliche Autonomie führen. Die meisten dieser Staatsbetriebe funktionierten nie oder serbelten dem Bankrott entlang.

Parallel dazu bereicherten sich Ratsiraka und noch mehr seine ihn umgebende Clique schamlos, derweil das Land von Jahr zu Jahr verarmte. Die Aussenverschuldung vervierfachte sich zwischen 1978 und 1980. 1982 war Madagaskar bankrott. Selbst die Bauern litten Hunger, Madagaskar musste sogar Reis importieren. Das Schulsystem wurde korrumpiert, die Analphabetenquote nahm drastisch zu. Das offiziell kostenlose Gesundheitswesen wurde zur Farce. Madagaskar sackte zu den zehn ärmsten Länder der Welt ab. Mehrere Aufstände im Süden und in der Hauptstadt wurden blutig niedergeschlagen. Es gab immer wieder Ausschreitungen gegen die im Lande lebenden Komorer und Indopakistaner. Sowohl die Bischofskonferenz als auch Amnesty International erhoben schwere Vorwürfe gegen das Regime. Landesintern galt eine generelle Pressezensur.

Zu Beginn der 1990er Jahre waren weite Teile der Bevölkerung ohne Illusion: die Revolution war ohne Früchte geblieben - im Gegenteil. Doch Ratsiraka, ein geschickter Taktiker, schaffte es immer wieder, die oppositionellen Kräfte für sich einzubinden und mit Posten und Ämtern zu locken. Gerade als er allmählich einen gemässigteren Ton anschlug, als die Wirtschaft einen leisen Hauch von Aufschwung erlebte, als vielleicht doch die Hoffnung aufkeimte, dass Ratsiraka dem Landeswohl fortan mehr Augenmerk widmen würde, gerade zu diesem Zeitpunkt schlug das Pendel um. In einem siebenmonatigen Streik wurde Ratsiraka 1991 aus dem Amt gestreikt.
Der Präsident ging nicht kampflos: am 10. August 1991 liess er auf die unbewaffnete Bevölkerung schiessen. Im Rahmen dieser Umwälzungen wurde der Medizinprofessor Albert Zafy an die Spitze geschwemmt und in einer Stichwahl gegen Ratsiraka im Februar 1993 vom Volk demokratisch bestätigt. Doch auch er schaffte es nicht, dem Land Frieden und Aufschwung zu geben. Die bis anhin eher in den oberen Etagen getätigte Korruption griff nun auf alle Bereiche des Lebens über. Die Unsicherheit in den Städten - aber auch auf dem Land - nahm drastisch zu. Die Ökonomie darbte weiter dahin, trotz Hilfeleistungen aus dem Ausland.
Zudem verstrickte sich Zafy und seine Umgebung in dubiose Geschäfte, so etwa die Affäre Flamco, als ein gewiefter Finanzjongleur den madagassischen Staat um Millionen Dollars erleichterte. Die Bauern taten, was sie immer in solchen Fällen tun: sie zogen sich in die Subsistenz zurück.

1996 wurde der einstige Hoffnungsträger Zafy abgewählt und Ratsiraka wieder als Präsident bestätigt. Viele Madagassen betrachteten diese Abstimmung als eine Wahl zwischen Pest und Cholera und blieben der Urne fern.

Madagaskar hat heute eine - mehrheitlich junge - Bevölkerung von rund 14 Millionen Menschen, 80 % davon leben in ländlichen Gegenden. Das Land steht heute schlechter da als zum Zeitpunkt der Unabhängigkeit. Obwohl Madagaskar keine Kriege und Flüchtlingsströme kennt, schafft es die fruchtbare Tropeninsel nicht, sich selbst zu ernähren. Ein tiefer Pessimismus und ein Gefühl von Machtlosigkeit durchzieht breite Bevölkerungsschichten. Wer kann, sucht durch Studium oder Heirat das Land zu verlassen. Wer bleibt, muss sich durch vielerlei Aktivitäten über Wasser halten. Trotzdem existiert Madagaskar in vielfältigen Facetten: reiche Familien mit frankophilem Gehabe, Profiteure und Geschäftemacher mit rüden Sitten, Indopakistaner, die sich ausserhalb ihrer Geschäftstätigkeit abschotten, städtische Angestellte am Rand der Hungerzone und die ländliche Bevölkerung, die kaum mehr als gerade überlebt.
Keine der staatlichen Institutionen hat die Macht und kaum den Willen, in ihrem Bereich wirklich durchzugreifen. So bieten oft nur kirchliche Kreise ein Umfeld, in dem sich die Leute einigermassen entfalten können. Die soziale und ökologische Degradation nehmen zu. Sieben von zehn Madagassen leben unterhalb der Armutsgrenze, titelten die Zeitungen dieser Tage.

Und doch lachen die Leute noch immer und begrüssen den Fremden mit einem freundlichen 'tonga soa'.*

*tonga soa heisst: herzlich willkommen.

 

Franz Stadelmann

Dieser Text erschien im September 1997 in der Zeitschrift 'Schritte ins Offene'.

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