Wissenschaftler und Naturheiler

Professor Ratsimamanga vereint in Madagaskar Tradition und Moderne.

Madagaskar ist ein Naturparadies, das seit 160 Millionen Jahren ohne Aussenkontakt im Indischen Ozean schwimmt. Mindestens 13000 Pflanzenarten haben sich völlig eigenständig entwickelt. Dass sich darunter auch Heilpflanzen befinden, wissen die traditionellen Naturheiler der Insel seit Generationen: aus Kräutern und Samen, Wurzeln und Gräsern entstehen Arzneien gegen eine Vielzahl an Krankheiten. Diese Erfahrungen nimmt der Medizinprofessor Ratsimamanga seit über vierzig Jahren auf und unterbreitet sie wissenschaftlichen Gegentests. Die Resultate der systematischen Erforschung der Heilkräfte sind erstaunlich, und Ratsimamanga ist Heilschamane und Arzt, Helfer und Lehrer der Nation.

Auf der Insel Madagaskar, die 14mal grösser ist als die Schweiz, hat die traditionelle Heilkunde in den letzten Jahren wieder stark an Bedeutung gewonnen. Denn das staatliche Gesundheitswesen ist immer weniger in der Lage, eine einigermassen korrekte Krankenpflege zu gewährleisten. In den isolierten Landesgegenden bieten die Krankenstationen erst recht keine medizinische Hilfeleistungen, denn ihre Ausrüstung ist sehr mager und die Medikamentenkästen sind leer.
Doch 80 % der rund 14 Millionen Madagassen wohnen auf dem Land. Daher wenden sich die Leute wieder vermehrt an ihren 'mpitsabo', den Naturheiler. Die Naturheiler haben ihre Kenntnisse zum einen Teil aus Indonesien, woher die ersten Madagassen vor rund 1500 Jahren einwanderten. Angereichert wurde dieses Wissen durch afrikanische Heilkunde und natürlich durch eigene Beobachtungen während den 80 bis 100 Generationen, seit es Menschen gibt auf der Insel in Indischen Ozean.

Die madagassische Heilkunde ist in den letzten Jahren auch in der Wissenschaft bekannt geworden, vor allem seit das madagassische Immergrün (catharanthus roseus) als Mittel gegen Tuberkulose erkannt wurde und inzwischen weltweit eingesetzt wird. Seit einigen Jahren gibt es auch Publikationen über die breitgefächerte Naturapotheke der Insel, oft erstellt von katholischen Missionaren. Ein Entwicklungshilfeprojekt nimmt sich der Erforschung der Heilpflanzen an. Ein paar Doktorarbeiten in Ethnologie und Ethnomedizin befassen sich mit dem kulturellen Umfeld der Kranken. Und es gibt Dr. Albert Rakoto Ratsimamanga, der wie ein Pfeiler aus diesem Heiler- und Gelehrtenkreis herausragt.

Der Medizinprofessor Albert Rakoto Ratsimamanga hat das traditionelle Wissen aufgenommen und seit einem halben Jahrhundert wissenschaftlich durchleuchtet. Entstanden ist nicht nur ein Forschungsinstitut, sondern ein umfassendes Lebenswerk, das auf mehreren Ebenen ins madagassische Leben eingreift. Einerseits wird das traditionelle Wissen der Pflanzen ausgeweitet und nach wissenschaftlichen Kriterien begutachtet. Immer wieder halten sich Gelehrte aus aller Welt im Labor und im Biogarten des Instituts auf.
Doch das Forschungsinstitut von Ratsimamanga soll kein Glashaus sein. Die Erkenntnisse sollen umsetzbar und anwendbar sein. Das Ziel ist die Gewinnung von Substanzen, die für Medikamente nutzbar sind. So produziert und verkauft das Institut auch verschiedenste Artikel: von Seife über Heilsalben bis zu einem völlig aus Pflanzen hergestellten Präparat für Diabetiker. Rund 40 Produkte kommen zu erschwinglichen Preisen auf den lokalen Markt. Damit findet ein ethischer Grundsatz des Pflanzenprofessors Anwendung: er will 'Gesundheit' präventiv und kurativ allen Bevölkerungsschichten zugänglich machen.

Albert Rakoto Ratsimamanga wurde 1908 in adeliger, aber verarmter Familie geboren. Seine Bildung erlangte er von protestantischen Missionaren, weil die französischen Kolonialschulen für 'Eingeborene' geschlossen waren. Er wurde Lehrer, dann Arzt. Statt einen Orden der Kolonialmacht entgegenzunehmen, weil er sich den Pestkranken angenommen hatte, erbat er eine Bewilligung, zu weiteren Studien nach Paris zu gehen. 1931 schiffte er sich als medizinischer Begleiter einer Sängergruppe ein. Die Musiker nahmen an der grossen 'Exposition Colonial' in Paris teil. Während er sein Medizinstudium an der Sorbonne fortsetzte, arbeitete er als Typograph, als Kellner, als Journalist.

Der Madagasse Ratsimamanga war der erste Afrikaner, der zum Assistenten an der Medizinfakultät der Pariser Sorbonne ernannt wurde. Mit der Erlangung der Unabhängigkeit setzte er seine Kräfte in den Dienst des Staates und wurde 1960 der erste madagassische Botschafter in Paris. Später besetzte er Botschafterposten in Bonn, Moskau und China.

Der heute fast neunzigjährige Wissenschaftler interessierte sich zeitlebens für viele Aspekte des Lebens. Er stand Pate der madagassischen Pfadfinderbewegung, er schreibt noch immer tägliche Kurzkommentare zum aktuellen Geschehen in der Zeitung Midi. Doch sein Interessensschwerpunkt kreist seit jeher um die Frage der Gesundheit und um die Heilkräfte der Natur. Seine Grossmutter beschäftigte sich schon mit 'Ravi-Maitso', wie die Medizinalpflanzen auf madagassisch heissen.

1957 gründete er sein Forschungs- und Produktionszentrum am Rande der Hauptstadt. Heute arbeiten dort über 100 Angestellte in Forschung und Produktion. Zudem unterhält das Institut eine Klinik, die täglich von Dutzenden von Kranken aufgesucht wird.

Rings um das Institut finden sich 4,5 Hektaren Testfelder, in denen hunderte von verschiedenen Pflanzen Madagaskars wachsen. Täglich kommen Schulklassen in diesen Florahain oder halten sich Praktikanten im Garten auf, um Pflanzen kennenzulernen, die in ihrer Heimat zwar wachsen, die sie selber aber nicht mehr kennen. Professor Ratsimamanga träumt davon, alle Pflanzen Madagaskars in seinem Garten zu haben und sie dadurch zu erhalten. Denn leider stehen 'in der Welt draussen' Flora und Fauna unter starkem Druck: Abholzungen, Weidebrände und Erosion zerstören in weiten Teilen Madagaskars die Lebensgrundlage vieler Pflanzen und Tiere.

Nebst dem Hauptgarten unterhält das Institut noch weitere vier Pilotzentren und hat nochmals vier zusätzliche Anbaugebiete in anderen Gegenden des Landes. Total sind rund 500 Leute in diesen Probestationen beschäftigt.

Den in diesen Gebieten lebenden Bauern will Ratsimamanga das Einkommen anheben und somit auch ihren Lebensstandard. Dadurch sollen die Bauern motiviert werden, auf dem Land zu bleiben und nicht die Horden von Arbeitslosen in den Städten noch zu vergrössern. Jeder Bauer soll mindestens eine Hektare Reis zur Verfügung haben. Doch er soll sich nicht allein auf das Hauptnahrungsmittel Reis konzentrieren. Durch eine gezielte Diversifizierung und eine breite Variation an Anbauprodukten sollen die Risiken verteilt werden und dies wiederum hilft, die Leute auf dem Land zu behalten. Jeder Bauer soll zudem ein Paar Zugochsen besitzen und Enten züchten. Im Idealfall hat jeder Hof einen Teich mit Fischen, die zudem die Mücken fressen und so der Verbreitung der Malaria entgegenwirken. Durch diese mit sanfter Überzeugungsarbeit erreichten Diversifizierungen hat Ratsimamanga 'seinen' Bauern ein dreifach höheres Einkommen verschafft.

Die Bauern sollen aber auch Maulbeerbäume pflanzen. Von den Blättern ernähren sich die Seidenraupen, deren Fäden ihrerseits zu Textilien gewebt werden. Ratsimamanga hat sich schon vor vielen Jahren mit der Raupenzucht beschäftigt und eine Rasse gezüchtet, die pro Verpuppung bis zu 750 Meter Seide in guter Qualität liefert. Zudem ist diese Rasse gegen Krankheiten weitgehend resistent. Die von den Bauersfrauen in Heimarbeit fein gewobenen Seidentücher sind sehr begehrt.

Natürlich propagiert Ratsimamanga auch den Anbau von Heilkräutern, so zum Beispiel die nur auf Madagaskar vorkommenden Anapatsy und Marantsoa. Er gewährleistet den Aufkauf der Produkte, damit die Bauern nicht unter Preis verkaufen müssen. Doch er kauft nur die Blätter. Wer Blätter mit ausgerissenen Wurzeln liefert, wird zurückgewiesen. Dies sieht der ehemalige Lehrer Ratsimamanga als Erziehungsmassnahme.

Jährlich kauft das Institut um die 50 Tonnen getrocknete Blätter, was 500 Tonnen Frischblättern entspricht. Ein grosser Teil wird exportiert. So beispielsweise die getrocknete Centella, die in Europa für Kosmetikprodukte benutzt wird. Oder die getrocknete Drosera (gegen den Husten), die auf madagassisch Mahatanando heisst. Die getrocknete Rinde des Quininbaumes wird ebenso exportiert, um daraus Chloroquin gegen Malaria herzustellen.

Die Produktion und Exportaktivität vollzieht sich im Medizinalbereich, aber auch im Kosmetikbereich. So bauen seine Handwerker in den Tropenwäldern einfache Destillationsanlagen, um Naturöl auszusieden. In anderen Regionen wird in Aufforstungen Eukalyptus ausgekocht oder auf Plantagen Ylang-Ylang gepflückt und daraus Parfumöl gewonnen.

Ratsimamanga ist allen Madagassen ein Begriff, trotzdem ist er ein bescheidener Mensch geblieben. Er sieht sich als Wissenschaftler, der sich aber auf das traditionelle Wissen der Heilkundigen stützt. Seine Reisen haben ihn im ganzen Land herumgeführt. Unzählige Gespräche mit Heilkundigen und eigene Beobachtungen haben ihn immer wieder auf neue Forschungsansätze gebracht. So beobachtete er, dass die Maki (Halbaffen mit schwarz-weiss geringelten Schwänzen) die Blätter der Talapetraka (centella asiatica) auf ihre Wunden legen. Diese kleine kleeartige Pflanze, so fand Ratsimamanga in langer Forschungsarbeit heraus, hilft auch gegen Pesterkrankungen.

Der Universitätsprofessor Ratsimamanga weisst darauf hin, dass auch die traditionellen Naturheiler auf ihre Weise Indikatoren entwickelt haben, die ihnen Anhaltspunkte zur Behandlung von Kranken liefern. So testet der Naturheiler eine mögliche Zuckerkrankheit, indem er den Kranken auf einen Termitenhügel urinieren lässt. Wenn die Ameisen herbeiströmen, um zu trinken, dann hat der Kranke Diabetes. Und der Naturheiler verabreicht ihm gegrillte Samen des Rotra-Baumes, die in einem Tee aufgegossen einen Trunk gegen Diabetes ergeben.

Ratsimamanga hat mit allerhand Pflanzen und Bäumen experimentiert. So steht ein Leetchisbaum im Garten, der 2 Tonnen rotfarbene Leetchis pro Jahr abwirft. Für den auf 1200 Meter über Meer gelegene Garten ist dieser Ertrag einmalig. Auf seinem täglichen Spaziergang durch sein Revier freut er sich nicht nur an den Pflanzen, sondern ebenso an deren Farben. 'Die Bauersfrauen machen eine wirkliche Malerei mit ihren Blumen', sagt er beim Betrachten der Beete, die mit Gemüse, Zuckerrohr, Mais und Erbsen durchmischt sind.

Natürlich ist sich der Medizinprofessor bewusst, dass in traditionellen Gesellschaften Heilkraft und Aberglaube, Gesundheit und Psychosomatik oft eng nebeneinanderliegen. Er sagt den Bauern, sie sollen Eukalyptusblätter unter die Bettmatraze legen, damit die Geister vertrieben würden. In Wirklichkeit aber vertreibt der Eukalyptusduft die Flöhe und Wanzen.

Ratsimamanga ist stolz auf sein Lebenswerk. Auch darauf, dass er sein Unternehmen ohne fremde Hilfe aufgezogen hat. Eine Starthilfe gaben ihm allerdings zwei Schweizer, die vor rund 40 Jahren während sechs Monaten bei ihm arbeiteten und die ersten Installationen einrichteten. Mit Pierre Haller aus Basel ist er heute noch befreundet. Ein damals installierter Extracteur funktioniert heute noch.
Auch in der Produktion hat sich nicht viel geändert. In reiner Handarbeit werden Seifen aus Avocado (gegen Hautflecken) hergestellt. Die Produkte Dermasy und Madina sind Crèmen gegen Akne und Narben, Fanafana hilft bei Zahnschmerzen. Fanazava ist ein Tee, der die Verdauung anregt und gleichzeitig gegen Infektionen wirkt. Fihina hilft gegen Asthma, Madetussyl ist ein Hustensaft.
Madeglucyl, versehen mit einem französischem Brevet, hilft gegen Diabetes, Mavitrika gegen Rheuma. Das Unternehmen produziert zwei Produkte gegen die Malaria: Totaquina und Odytazo. Sein Labor untersucht gegenwärtig Kulturen, die resistent gegen Chloroquin sind. Alle Produkte basieren auf pflanzlicher Basis. Allerdings enthält das Herzmittel Cardiotonyl auch Substanzen, die aus dem Herz eines jungen Stieres gewonnen wurden.

Die Produkte sollen nicht nur helfen, sondern auch für die Bevölkerung erschwinglich sein. Daher verzichtet Ratsimamanga vollständig auf vielfarbige Verpackungen. Ein Riechstoff gegen Erkältung wird gar in alte Impffläschchen abgefüllt. Diese Art Recycling geschieht aus Not, denn in Madagaskar gibt es keine Glasindustrie und Importe sind sehr teuer. Ratsimamanga zieht es auch vor, mit vielen Leuten zu arbeiten und so Jobs zu schaffen, statt mit teuren Maschinen zu produzieren. So lehnt er auch die Hochtechnologie der Japaner ab, die gern mit ihm zusammenarbeiten möchten.

"Wir müssen in unserem eigenen Schritt vorwärtsgehen", sagt er zum Abschied, "wir müssen zuallererst uns selber vertrauen und ebenso Vertrauen haben in die Heilkräfte der Natur. Denn Natur und Mensch sind eins." Albert Rakoto Ratsimamanga hat während seines Lebens ein langes und interessantes Jahrhundert durchschritten. Dabei strahlen die Augen des Neunzigjährigen noch immer vor Lebenslust und Wissensdurst.

Franz Stadelmann

Diese Reportage erschien im Mai 97 in der Zeitschrift Natürlich.

Professor Ratsimamanga ist am 16. September 2001 im Alter von 94 Jahren verstorben. Damit hat Madagaskar nicht nur einen aussergewöhnlichen Forscher und Arzt verloren, sondern auch einen politischen Mahner und einen Kämpfer für ethische Werte. (Franz Stadelmann)

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