Merinareiche
Das
zentrale Hochland um Antananarivo wird heute fast durchgehend
vom Volk der Merina bewohnt. Die oralen Überlieferungen der
Merina berichten, dass die Vorfahren aus andafy, einem Land
jenseits des grossen Meeres, kamen und
in der Bucht von Antongil landeten. Von
dort überquerten sie wahrscheinlich die Schwelle von Androna
und gelangten auf das Hochplateau bei Anjozorobe. Langsam
breiteten sie sich entlang der Falaise von Langavo Richtung Süden
aus. Vielleicht kann man davon ausgehen, dass am Rande der
Dichtwaldzone in der Region des heutigen Lac Mantasoa um 1300 -
1400 nach Christus ein erster Siedlungsschwerpunkt entstand, der
sich später durch Neuankommende in südlicher Richtung bis
zum Onive-Fluss fortsetzte und
nach Westen bis zum Ankaratra-Gebirge ausdehnte.
In
dieser fruchtbaren Gegend mit einer Meereshöhe um 1000 m
und reichlich Regenfällen mögen sich die
Merina-Gruppen mehrere Generationen aufgehalten haben, bis
einzelne Familien wieder Richtung Norden den Flussläufen
des Ikopa und des Sisaony entlang bis in die riesige Sumpfebene
(Betsimitatatra) in der Gegend der heutigen Stadt Antananarivo
gelangten und sich besonders im Osten, Nordosten und Norden der
Betsimitatatra niederliessen.
Dieses
Vordringen gestaltete sich langsam zwischen 1300 und 1500. Erst
aus dieser Zeit, als sie die Region des heutigen Imerina
erreicht hatten, sind vermehrt gesicherte Informationen
erhalten. Diese mündlichen Überlieferungen wurden 1878 von
Père Callet gesammelt und aufgezeichnet. Die
heutige Kenntnis der Geschichte der Merina beruht im
wesentlichen auf dieser Niederschrift.
Archäologische
Untersuchungen und die Auswertung von Flugaufnahmen haben
ergeben, dass sich drei Regionen bezüglich der Konstruktion der
Dorfbefestigungen gleichen: Lac Alaotra, Hovaland und Lalangina
(Nordost-Betsileoland). Diese Dörfer waren jeweils auf
einer Hügelkuppe gebaut und mit einer Mauer umrundet, deren
Eingangspforten nachts mit Scheibensteinen geschlossen wurden. Zur
Erhöhung der Sicherheit verlief um die Mauer ein Graben von
10 - 20 Fuss Breite und einer Tiefe von 25 Fuss, wie es einer
der ersten europäischen Besucher des Hochlandes, der
Franzose Mayeur, 1777 beschrieb.
Die Verteidigungsanlagen wurden in Gemeinschafts- und
Fronarbeit erstellt. Eine auffallende Häufung der
Befestigungsanlagen ist in der Region um Mangamila (bei
Anjozorobe) festzustellen.
Noch
heute finden sich überall in Imerina auf den Bergkuppen überwachsene,
verlassene Befestigungsanlagen, von denen oft nur noch die
Wehrgräben vom Flugzeug aus zu sehen sind.
(Flugaufnahmen haben ergeben, dass auf den Hügeln
von Imerina um die 10’000 Dorfgrabenanlagen unterschiedlichen
Datums existieren. Das Alter dieser Anlagen ist oft nur schwer
auszumachen.)
Das
Hochland wurde langsam besiedelt. Laut den Volkserzählungen
war die Ebene von Antananarivo und die umgebenden Hügel bereits
vom Volk der Vazimba bewohnt: Jäger, Fischer,
Brandrodungsfeldbauern, die allmählich durch die
entwickeltere Waffentechnologie der Neuzuwanderer vertrieben
wurden. Die Merina kannten das Eisen, das sie zu Speerspitzen
und zu sagai (Speere) formten. Die Vazimba hatten diesen Waffen
nur Bambusrohre mit aufgesetzten Steinspitzen oder gehärtetem
Lehm entgegenzusetzen.
Wer
diese mysteriösen Vazimba genau waren, denen die Merina gar
übernatürliche Fähigkeiten zuschrieben, bleibt unklar. Vielleicht waren sie die Nachfolger einer erste
Welle von Einwanderern, die sich womöglich von den später
ankommenden Merina kaum unterschieden, vielleicht war es einfach
ein erster Clan, der von den nachfolgenden Familiengruppen
vertrieben wurde. Interessant ist, dass der Merina-Clan der
Antehiroka auch Vazimba genannt wird.
Das
Volk der Vazimba wurde zum Teil aufgerieben, zum Teil
vertrieben: etliche wanderten in andere Regionen weiter.
Wahrscheinlich wurden einzelne Vazimba wohl auch durch Heirat in
Merina-Familien aufgenommen, andere
hatten einen Sklavenstatus oder waren zumindest tributpflichtig.
Viele Elemente der
untergehenden Vazimba-Kultur wurden von den Merina in ihre
eigene Kultur aufgenommen.
Die
neuen Merina-Einwanderer waren hellhäutiger,
'indonesischer' und brachten womöglich die Technologie des
Nassreisanbaus mit. Die Reisfelder wurden auf dem Grund der Täler
angelegt. Ackerland und Wasser waren reichlich vorhanden.
Die
Merina waren soziologisch in zwei Gruppen unterteilt, die auch
heute noch - untergründig - weiterbesteht. Die fotsy (weisse)
sind die freien Merina und die mainty (schwarze) die Sklaven.
Noch heute kann generalisiert gesagt werden, dass je heller und
'asiatischer' eine Person ist, umso grösser die Chance
besteht, dass sie ein Nachkomme von freien Merina ist. Zudem
haben diese fotsy oft gerades schwarzes Haar und sind von
zierlicher Statur. Sie
repräsentieren das 'indonesische Element' am stärksten.
Laut Untersuchungen machen sie etwa 60% der Merina aus. (Eng
verwandt mit diesem 'indonesischen' Menschentyp sind die
Betsileo und die Sihanaka.) Die mainty stammen meist aus Kriegszügen, in denen die
gefangenen Soldaten versklavt wurden. Insbesonders
zu Beginn des 19. Jahrhunderts kamen so viele mainty in die
Merina-Gesellschaft hinein. Doch
es gab auch 'weisse' Sklaven, Leute, die aufgrund eines
Verbrechens ihre Freiheit verloren hatten und den Status von
Sklaven erhielten. Ebenso wie es freie 'Schwarze' gab.
Im
Umkreis der Hügeldörfer entstanden viele kleine Königtümer,
dessen König nur gerade über seinen Familienclan herrschte
und über ein Territorium regierte, das nicht viel grösser
war als sein Dorf und das umliegende Weideland. Nach seinem Tod
wurde das Erbe oft aufgeteilt und neue Reiche gegründet - oder
im Kleinkrieg den Nachbarn entrissen.
Im
16. Jahrhundert taucht als Bezeichnung für die Merina auch der
Name Ankova auf (das Land im Zentrum). Die
ersten Reisenden, so auch Mayeur, benutzten Ankova auch als
Volksbezeichnung.
Die
Genealogien der berühmteren Könige sind aus den 'Tantaran'ny
Andriana' (Geschichte der Könige) bekannt, eine
madagassische Erzählung von Mythen, Legenden und
Geschichten. Der erste König, der durch seine Leistungen
hervorsticht, war Ralambo, der von 1575 bis 1610 herrschte. Diesem
halbmythischen König werden
jene Taten zugeschrieben, die zu einer ersten Einheit von
Imerina führten. Ralambo war der Sohn von König
Andriamanelo, dessen Grabstätte in Alasora noch
heute verehrt wird und wo bei zunehmendem Mond noch immer Riten
abgehalten werden. Andriamanelo soll als erster eisenbespitzte
Speere (sagai) gegen die Vazimba eingesetzt haben und dadurch
eine waffentechnische Überlegenheit erlangt haben. Er
war es auch, der die Hauptstadt seines Reiches auf die Hügelkuppe
von Alasora südöstlich von Antananarivo verlegte.
Andriamanelo war der Sohn (oder Enkel) von Königin Rangita,
die möglicherweise aus dem Volk der Vazimba stammte. Sie
wird als Urahnin der Merina betrachtet.
Der
Clan ihrer Nachfahren unter Ralambo bewohnte das Dorf Alasora in
einer relativ stark besiedelten Region am Ikopa-Fluss. Diese Gegend litt zunehmend unter den grausamen Attacken von
benachbarten Stämmen, den Bezanozano, den Sihanaka, den
Ontaiva und auch aus dem Westen von den Vazimba. Den
lästigen Angriffen setzte er sich durch die Organisation
einer Art Armee zur Wehr. In die Zeit der Herrschaft Ralambo fällt
auch die Einfuhr der ersten Gewehre, die von Seefahrern an der Küste geliefert wurden. Die Macht
der Gewehre beruhte wohl eher auf ihrem Knalleffekt als auf der
Zielgenauigkeit: die Feinde sollen durch den Lärm so
erschreckt gewesen sein, dass sie kopflos flohen. Dieses Machtinstrument verleitete ihn wohl auch, von Alasora
aus noch weitere Gebiete nördlich des Ikopa zu erobern, was
ihm auch gelang. Daraufhin verlegte Ralambo seinen
Herrschaftssitz nach Ambohidrabiby im Nordosten von Antananarivo.
Damit kontrollierte er ein Gebiet von vielleicht 30 Kilometer im
Umkreis.
Ralambo
wird die Einführung von etlichen Neuerungen zugeschrieben.
(Doch die madagassische orale Tradition, auf der diese Angaben
beruhen, neigt dazu, Geschehnisse berühmten Königen
zuzuschreiben und dabei die historische Wahrheit etwas in den
Hintergrund zu schieben.)
So
soll er eine jährliche Kopfsteuer und gelegentliche
Zusatzsteuern von seinen Untertanen gefordert haben. Eine Heirat
zwischen bestimmten Kasten: andriana (Noble), hova (Freie),
mainty (königliche Sklaven) und andevo (Sklaven) soll
er verboten haben und damit ein Kastensystem legalisiert haben.
Er soll das Vazimba-Tabu des Essens von Rindfleisch aufgehoben
haben. Auf dieses Ereignis soll auch die jährliche Feier
des fandroana, des königlichen Bades, zurückgehen. Dieser Entscheid hatte wohl die Förderung der Viehhaltung
zur Folge.
Auf
Ralambo soll auch das Verbot zurückgehen, zwei Herrscher
anzuerkennen, ebenso wie die Gewohnheit, eine Steinstele als
Erinnerung an ein denkwürdiges Ereignis zu errichten.
Ralambo
begründete eine erste, wenn auch noch regional stark eingeschränkte,
zentralisierte und feudale Merina-Herrschaftsstruktur. Der
König wurde eine heilige Person, ausgerüstet mit sampy (königliche
Talismane), die ihn auf magische Weise über alle Menschen
stellten. Er verfügte
als erster Merina-König über Gewehre, was ihm wohl eine
militärische Überlegenheit für seine Unternehmungen
gab.
Noch
zu Lebzeiten hatte er die Frage seiner Nachfolge geregelt, indem
er seinen zweitgeborenen Sohn Andrianjaka, ein bewährter Feldherr im Kampf gegen die
eindringenden Nachbarvölker, auserwählte. Um den
idealen Nachfolger zu bestimmen, gab er zu sterben vor und liess
beide Söhne durch Boten nachts zu sich bestellen. Der
ältere, mit einer Partie fanorona (madagassisches
Strategiespiel) beschäftigt, stand kurz vor dem Gewinnen
und konnte sich nicht aufraffen, sofort zu seinem Vater zu
hasten. Andrianjaka, der jüngere, hingegen eilte unverzüglich
hin und erhielt daraufhin von seinem Vater öffentlich die
Nachfolge bestätigt.
Andrianjaka
(der Edle, der regiert) herrschte von 1610 bis 1630. Ihm
gelang die Einnahme der Hügelkuppe von Analamanga, die ein
Widerstandsnest der Vazimba gegen die sich ausdehnende Monarchie
geblieben war. Diesen Inselberg entwaldete er und errichtete auf
dem höchsten Punkt seine rova, das königliche Haus aus
Holz. Ringsherum wurden Quartiere für seine Waffengefährten
gebaut. Er wünschte sich, dass sie tausend würden, wovon sich
der Name Antananarivo (ho arivo an-tanana) ableitet. Seine militärische Macht beruhte auf dem Besitz von über
50 Steinschlossgewehren und drei Fässchen Pulver.
Auf
Order des Königs mussten die Untertanen in kollektiver
Arbeit die Sumpfebene des Ikopa (Betsimitatatra) in Reisfelder
umwandeln und dazu Kanäle bauen, um den Sumpf zu entwässern.
Die
erhöhte Sicherheit liess auch einen kleinen Handel mit
Handwerksprodukten von Dorf zu Dorf entstehen. Mit Holzkohle
wurde Eisen geschmolzen, um sagai (Speere) und Messer
herzustellen. Töpferei war sehr verbreitet. Man benützte
die Tonerde der Reisfelder, um Teller und Behälter zu
machen. Zudem gebrauchte man Kuhhörner als Gefässe,
flocht Matten aus Gras und stellte Seile her. Silber
fand Eingang in Form von ausländischen Münzen, die ihren
Weg von der Küste bis nach Imerina fanden. Aus dem Silber
wurden Schmuckstücke gegossen.
Die
Häuser waren aus gestampfter Erde gebaut und mit bozaka (Grasstroh) bedeckt. Die Haustür befand sich
auf der Westseite. Normalerweise hatte ein Haus zwei Zimmer, das
kleinere diente als Stauraum, das zweite als Aufenthaltsraum.
Die Nordost-Ecke war den Ahnen geweiht. Dort wurden die
verstorbenen Vorfahren um Hilfe und Schutz angerufen und
Opferzeremonien abgehalten.
Während
der Regierungszeit von Andrianjaka wurden allmählich auch Häuser
aus Holz gebaut. Der König hatte dazu mit seiner rova das
Beispiel gegeben.
Die
Dörfer befanden sich noch immer auf den Höhen, denn
die Sicherheit vor Feinden und den Sklavenjägern der
Sakalava und Sihanaka blieb
weiterhin eine dauernde Sorge. Ein Graben umschloss jedes Dorf
und manchmal wurden sogar zwei Gräben mit Querverbindungen
gebaut. Die Eingangstore wurden nachts von grossen
Scheibensteinen geschlossen und von Wächtern bewacht.
Die
Merina hielten selber aber auch Sklaven. Oft waren es besiegte
Feinde, viele gelangten aber auch durch Handelsaustausch zu
ihren Besitzern. Zur Zeit des Königs Andranjaka wurden auch
vermehrt Sklaven (mainty) von anderen Regionen nach Imerina
gebracht. Der öffentliche Sklavenhandel begann mit
Andrianjaka.
Andrianjaka
starb 1630. Sein Grabmal befindet sich auf der von ihm eroberten
Hügelkuppe in Antananarivo. Es ist eines der sieben Königsgräber,
die sich in der heutigen rova befinden. Er hatte Imerina eine
erste Einigung unter seiner Zentralregierung gegeben und
Antananarivo als Regierungssitz erkoren.
Reis,
zentralisierte Organisation und Armee waren die Stützpfeiler
der Merina-Monarchie geworden - und das blieb so bis zu ihrem
Fall rund 250 Jahre später.
Seine
Nachfolger profitierten von einer Periode des Friedens: Sie
setzten die Entwässerung der Sümpfe rings um Antananarivo
fort. Durch das Regulieren der Wassermenge wurde es möglich,
zwei Reisernten pro Jahr zu erhalten.
Sein
vierter Nachfolger, Andriamasinavalona, regierte von 1675 -
1710. Als friedliebender Herrscher brachte er vor allem im
sozialen Bereich Fortschritte. Zudem liess er den rund 25
Kilometer langen Damm vahilava entlang des Ikopa bis zum
Mamba-Fluss bauen. Fortan entwickelte sich die Ebene von Betsimitatatra durch
ihre grosse Produktion zur Reiskammer von Imerina und minderte
durch ihren Überschuss die Hungerkatastrophen, die jedoch
auch während der Regierungszeit von Andriamasinavalona noch
immer ausbrachen.
Andriamasinavalona
vertraute weniger den Kriegen als vielmehr der Diplomatie. Im
Gegensatz zur inzwischen üblichen Gewohnheit, die Herrschaft
nur einem Nachfolger ungeteilt zu übergeben, beschloss er,
seinen vier Söhnen je einen der dominierenden Hügel seines
Königreiches abzutreten: Ambohimanga, Antananarivo,
Ambohidratrimo und Ambohidrabiby.
Die
dezentralisierte Administration sollte jedoch weiterhin unter
seiner Kontrolle bleiben. Einer seiner Berater versuchte ihn
vergeblich zu warnen. Er schickte dem König eine Lamba
(Stofftuch), zerrissen an vier Ecken. Oder er liess vier Hähne
um ein Huhn kämpfen. Doch der König wollte nicht auf
die Warnungen hören.
Der
Konflikt kam unweigerlich und zwar von seinem Sohn in
Ambohidratrimo. Dieser nahm seinen Vater Andriamasinavalona
durch eine List gefangen, um ihm das Versprechen abzulocken, ihm
das ganze Königreich zu vermachen. Aus Angst vor seinen Brüdern
bat er den Sakalava-König Andriamaheninarivo um Hilfe, der
jedoch vehement und entrüstet ablehnte, im Gegenteil mit einer
militärischen Intervention drohte, falls der Sohnkönig
seinen Vater nicht freiliess. Erst nach siebenjähriger
Gefangenschaft in Sichtweite von Antananarivo entliess er seinen
Vater endlich aus der Gefangenschaft.
1710
starb der König Andriamasinavalona und sogleich brach
zwischen den vier Söhnen ein zäher Erbfolgekrieg aus,
dem eine lange Periode der Anarchie folgte. Diese Kriegszeit führte
dazu, dass die Dörfer von Imerina wieder stärker
befestigt wurden. Die Gräben wurden tiefer gebaut, die
Anlagen oft vieleckig angelegt. (Erst gegen Ende des 18.
Jahrhunderts erscheinen die teilweise heute noch erhaltenen
runden Dorfanlagen auf weniger hohen Hügeln.)
Als
erster trickste der König von Ambohimanga seinen Bruder in
Ambohidrabiby aus und vergrösserte somit seinen
Machtbereich, dann eröffnete er die Feindseligkeiten nicht
nur gegen Ambohidratrimo, sondern auch gegen Antananarivo.
Zugleich musste er sich als nordöstliches Königreich
auch gegen die Sakalava zur Wehr setzen, die regelmässig
entlang des Flusses Betsiboka heraufkamen, um die Merinadörfer
zu plündern und Sklaven zu fangen.
Diese
zermürbenden Razzien hinderten weder den König von
Ambohimanga noch die Sakalava, gemeinsam gegen Antananarivo zu
marschieren.
Die
Südgrenze gegen Antananarivo vertraute der König von
Ambohimanga seinem ältesten Sohn Andrianjafy an, der auf
einem Wehrposten in Ilafy Station nahm und 1770 sein Nachfolger
wurde. In den Jahren seiner Herrschaft, die bis 1787 dauerte,
erwarb sich Andrianjafy einen brutalen Ruf.
Trotz
unruhigen, kriegerischen Zeiten - oder vielleicht gerade
deswegen - herrschte auf dem Hochland um Antananarivo ein höherer
Organisationsgrad vor, als an der Küste, was der Reisende
Mayeur 1777 mit Erstaunen notierte.
Mayeur war auch von den Märkten und ihrem breiten Angebot
an Produkten von Seidenlambas über Äxte, Speere und Messer
bis hin zu Nahrungsmitteln beeindruckt. Geld
als Zahlungsmittel war bereits in Gebrauch.
Der
Gewaltherrscher Andrianjafy schmiedete Mordpläne gegen
seinen designierten und wohl auch beliebteren Nachfolger
Imbosalama (wilder Hund), der diesen Namen aufgrund eines
besonderen Vorkommnisses während seiner Geburt erhalten
hatte und als positives Zukunftszeichen gewertet wurde. Der
junge Imbosalama wurde jedoch von den zwölf Notablen, die
vom Todesplan erfuhren, gewarnt und durch öffentliche
Proklamation erklärte er sich zum König und nahm den
Namen Andrianampoinimerina (der von Imerina gewünschte Prinz;
der Herrscher im Herzen von Imerina) an.
Mit diesem Staatsstreich putschte sich ein Herrscher an die
Macht, der das Gesicht von Imerina nachhaltig ändern sollte
und damit auch Einfluss auf ganz Madagaskar ausübte.
Zu
dieser Zeit um 1787 war
Imerina in drei grössere Königreiche unterteilt,
daneben regierten sehr viele kleinere Lokalkönige über
einen beschränkten Machtbereich. Die drei dominanten Könige
einigten sich auf ein Stillhalteabkommen innerhalb festgelegter
Grenzen während sieben Jahren. (Die magische Zahl sieben
ist wohl eher symbolisch als historisch zu verstehen.)
Dieser Vertrag jedenfalls ermöglichte
Andrianampoinimerina, während einer gewissen Zeit die
Verteidigungsanlagen von Ambohimanga auszubauen und die Nordost-
und Westgrenzen seines Reiches gegen die notorischen Einfälle
der Sklavenjäger zu verstärken. Dort baute er
befestigte Dörfer, stationierte militärische
Garnisonen und setzte Siedler im Umland der Militärposten
ein. Im Rahmen der Stärkung der Nordgrenze gegen die immer
wieder einfallenden Sakalava und Sihanaka, schickte er auch eine
Gruppe von Siedlern nach Anjozorobe, die valon-zato-lahy
(Achthundert Mann) genannt wurden. Zudem gründete er ein Elitecorps aus 50 Männern, die zum
Kern seiner schlagkräftigen Armee wurden.
1794
hob der König von Ambohimanga einseitig den Nichtangriffspakt auf und setzte sofort seine
Armee zum Sturm auf Antananarivo in Marsch. Erst nach drei Feldzügen
gelang es Andrianampoinimerina, den stark befestigten Hügel von
Antananarivo einzunehmen. Sogleich nach der Eroberung von
Antananarivo zog Andrianampoinimerina nach Süden, um die an
sein Reich angrenzenden Kleinkönige zu unterwerfen, dann
nach Osten bis Ambatomanga mit dem Ziel, die Bezanozano und
Sihanaka zurückzuwerfen. Dann nahm er den Hügel von
Ambohidratrimo ein. Innerhalb kurzer Zeit befand sich das
Kernland von Imerina unter Kontrolle von Andrianampoinimerina,
des Königs von Ambohimanga. Das
relativ wohlhabende Imerina umfasste damals ein Gebiet von 50
Kilometern im Umkreis von Antananarivo und
umschloss kulturell gleiche Leute.
Zentraler
Punkt blieb die Sicherheit, zudem setzte Andrianampoinimerina
weiterhin auf Expansion, auch über die Grenzen der Merinabevölkerung
hinaus. Andrianampoinimerina suchte zwar eine - dominante -
Freundschaft mit den Nachbarreichen. Im Fall von Imamo (Königreich
um den Lac Itasy) klappte dies. Auch zu den Königen der
Antaimoro unterhielt er gute Beziehungen. Oft
halfen Diplomatie und Heiratsallianzen. Ansonsten schickte er
die Armee. Alle freien Männer konnten jederzeit zu
Armeefeldzügen aufgeboten werden.
Die
Erfolge seiner Macht in Zentralimerina und seiner Kriegspolitik
liessen Andrianampoinimerina bald von einem noch grösseren
Reich träumen. Erneut zog er nach Süden, eroberte 1807
Vakinankaratra und später drei der vier Königreiche im
Betsileoland. Wer
sich nicht ergab, wurde umgebracht, die Häuser und Dörfer
zerstört. So wurde 1807 Ambositra dem Erdboden
gleichgemacht, als
der Sohn und spätere Nachfolger Radama einen Feldzug für
Andrianampoinimerina gegen Betsileoland führte.
Andrianampoinimerina
empfing die Sakalava-Königin Ravahiny von Boina offiziell
in Antananarivo, die sich gegenüber dem König von Imerina
als Kind bezeichnete und sich ihm so unterstellte.
Der
Herrscher von 'Imerina enin-toko' (die sechs Provinzen von
Imerina) hielt sich abwechselnd in den beiden Königsstädten
Antananarivo und Ambohimanga auf. Den Leuten von Antananarivo
gab er den Namen voronmahery (Falken).
Administrativ teilte er sein Reich in sechs
Provinzen (toko) ein: Avaradrano
(Region nördlich von Ambohimanga); Marovatana (Region um
Miarinarivo nördlich vom Lac Itasy); Ambodirano (Region
unmittelbar südlich von Antananarivo); Vakinisisaony (Region um
Andramasina südlich von Antananarivo); Vonizongo (Region um
Mahitsy nördlich von Antananarivo) und Vakinankaratra
(Region um Antsirabe).
Die
meisten Herrscher in den eroberten Gebieten blieben als Vasallen
an der Macht, unterlagen aber in unterschiedlichem Mass dem
Einfluss der Zentralmacht. Während Imamo im Westen von
Antananarivo ein grosses Mass an Autonomie behielt, wurde
Betsileoland als eine Art Protektorat verwaltet, behielt
allerdings die Autorität seiner lokalen Könige
ebenfalls bei.
Der
König betrachtete sich als Pfeiler von Merina und
beanspruchte die absolute Macht. Allein der König hatte das
Recht über Leben und Tod seiner Untergebenen. Er war der
Besitzer der Erde: ahy ny tany (Ich bin die Erde). Seine Verwaltungspolitik war nicht revolutionär, er stützte
sich auf die bereits bestehenden traditionellen
Dorfgemeinschaften (fokonolona), die
bislang ihre Dorfangelegenheiten selbst geregelt hatten und
Gemeinschaftsarbeiten ausgeführt hatten. Doch
durch seine Macht brachte er die fokonolona unter seine
Kontrolle. Nicht mehr der soziale Zusammenhalt der Dörfer
waren fortan die Quelle der Macht der fokonolona, sondern der König.
Nur
der König hatte das Recht, einen roten Sonnenschirm zu
tragen, und nur er allein durfte die Königsreden halten. Er
erhielt auch Abgaben (vodihena: Teil des Königs) in
Natura oder in Geld. Seine Vasallen und Untergebenen erbrachten
ihm bei vielen Gelegenheiten Ehrerbietungen (hasina) in Form von
Geld oder von einem Rind, das auf der Stirn einen weissen Fleck
trug (volavita). Der
König besass eigenes Kapital, eigene Sklaven und
Reisfelder. Dazu kamen Einkünfte aus Abgaben und Steuern.
Andrianampoinimerina
bezeugte mehrmals seine exklusive Souveränität über
Imerina und einige Male erhob er sogar seinen
Herrschaftsanspruch über die ganze Insel, indem er sagte: 'das
Meer ist die Grenze meiner Reisfelder'. (Mit
eigenen Augen hat Andrianampoinimerina das Meer allerdings nie
gesehen.)
Trotz
seiner absoluten Macht hatte Andrianampoinimerina für jede der
sechs Provinzen einen Berater zur Seite, die er vor jeder
Entscheidung konsultierte. Am Hof informierte sich
Andrianampoinimerina durch die andriana (Noble) und die
vadin-tany (Beamte) über die Situation in seinem Reich. Auch
seine alten Kampfgenossen fanden als Berater immer ein offenes
Ohr beim Merina-König. Zudem versammelte er oft das Volk in Ambohimanga oder in
Antananarivo, um ihm in einer königlichen Rede (kabary)
seine Projekte zu erklären. Schriftliche Aufzeichnungen dieser kabary sind noch heute
erhalten. (Sie wurden mehrere Generationen später von den
Missionaren niedergeschrieben, denen die Leute noch jedes Wort
des Königs wiederholen konnten.)
Mitgliedern
der königlichen Familie gab er Territorien (menakely) zur
Verwaltung, in denen sie Steuern erheben und Zwangsarbeit
anordnen durften. Die menabe, die königlichen Territorien,
wurden von Funktionären (vadin-tany)
als königliche Abgesandte verwaltet. Diese Funktionäre
(Richter, Administratoren, Inspektoren) wurden aus allen Bevölkerungsschichten
rekrutiert. Das Volk setzte sich aus Nobeln, aus freien Männern
und aus Sklaven zusammen. Diese drei Kasten unterteilten sich
nochmals in mehrere Untergruppen. Die Ehefrauen und die nächsten
Verwandten des Königs standen an der Spitze der Noblen.
Zwölf
Königsfrauen bekamen besondere Privilegien zugestanden.
Andrianampoinimerina hatte sie in einigen Fällen aus
politischen Gründen geheiratet. Sie wohnten in Residenzen auf
den zwölf dominierenden Hügel rings um Antananarivo. Diese
Ehefrauen wurden 'vadim-panjakana' genannt, Frauen der Macht,
was die strategischen Beweggründe dieser Heiratsallianz
klarlegt. Die zwölf
heiligen Hügel geniessen noch heute in Merinaland eine fast
mythische Verehrung.
Andrianampoinimerina
formulierte auch Gesetzestexte, welche die öffentliche
Ordnung, die Organisation von Staat und Familie, die Verwaltung
von Hab und Gut regelten. Dabei bestätigte der König
oft nur die bereits bestehende Praxis, doch durch sein Wort
wurde er zur gesetzgebenden und bestimmenden Kraft. Obwohl
diese Gesetze und Vorschriften nicht schriftlich fixiert waren,
galten sie als königliches Wort und somit als uneingeschränktes
Gesetz und daher als Massstab in Streitfällen.
Es
bestand ein Unterschied zwischen Verbrechen und Vergehen. Zwölf
Kapitalverbrechen, von Rebellion bis zu bestimmten Diebstählen,
wurden mit der Todesstrafe geahndet. Vergehen wurden mit Bussen
oder Beschlagnahme von Hab und Gut bestraft. Gefängnisstrafen
gab es nicht. Der Test durch Gift (tangena) wurde als Element
der Wahrheitsfindung angewandt.
Andrianampoinimerina
organisierte auch die Reparatur der in mehreren Jahrzehnten
Anarchie zerfallenen Bewässerungsanlagen. Er liess neue Dämme
und Kanäle bauen, organisierte die Trockenlegung der Sümpfe:
'das Wasser ist mein Feind, der Reis ist mein Freund', sagte er.
Vielleicht
war die Trockenlegung der Sümpfe und die darauf erfolgte
Reisproduktion der Schlüssel des Erfolgs von
Andrianampoinimerina. Denn durch die Überproduktion konnte
eine stehende Armee und ein Beamtenapparat ernährt werden.
Die
vielen Bauarbeiten wurden durch die Dorfgemeinschaft (fokonolona)
ausgeführt, die auch Brücken bauten, Dämme, Märkte,
Dorfgräben. Gemeinsame Fronarbeit (fanompoana) war für
alle verpflichtend. Auch
Verwaltungsarbeiten und Kriegsdienste mussten die fokonolona
fortan leisten. So hatte der König die fokonolona von der
reinen Dorfebene in eine höhere Ebene, jene des Reiches,
gehoben.
Andrianampoinimerina
verbot die Wiederaufforstung, um Platz für weitere Kulturen
freizuhalten, so förderte er den Anbau von Maniok und Süsskartoffeln.
Nur
allmählich und zögernd entwickelte sich der Gebrauch
von - ausländischem - Geld. Als Einheit diente der
spanische Piaster. Die Münze wurde aber soweit unterteilt und
zersägt, dass sie sogar das Gewicht eines einzelnen
Reiskorns haben konnte. Eigene Münzen wurden nicht geprägt. Zur Aktivierung des
Handels offizialisierte Andrianampoinimerina bestimmte Längenmasse,
Gewichte und Hohlmasse.
Durch
die Schaffung von Märkten (tsena) entstand ein aufblühender
Binnenhandel. Jeder wichtige Ort hatte seine regelmässigen
Märkte. In Antananarivo gab es einen täglichen Markt.
Der Handel war frei. Andrianampoinimerina achtete auch auf die
Gewährleistung der Sicherheit auf den Märkten. Jeden
Markt wollte er als seinen Palast betrachtet wissen. Jeglicher
Diebstahl auf einem Markt wurde mit dem Tode bestraft. Die Märkte
schlossen schon deutlich vor Sonnenuntergang, damit die Leute
rechtzeitig nach Hause gehen konnten.
Der
Aussenhandel geschah über vom Militär kontrollierten
Pisten, die Produkte gelangten durch Zwischenhändler an die
Ost- und Westküste. Ausländische Händler kamen selten
nach Imerina. Sie tauschten ihre Güter an den Grenzen des
Landes: Reis und Sklaven gegen Stoffe, Gewehre und
Schiesspulver. Sklaven
aus Kriegszügen waren das wichtigste Exportprodukt von
Merinaland. Dieser Handel und dessen Kontrolle ermöglichte
Andrianampoinimerina den Zugang zu einer Waffentechnologie
(Gewehre), über die seine Konkurrenten (ausser Sakalava und
Betsimisaraka) nicht verfügten.
Die
grössere Sicherheit und der generelle Frieden liessen
Produktion und Handelsaustausch aufblühen, die während den
Jahrzehnten der Anarchie wieder auf ein Subsistenzniveau
gefallen waren. Doch Andrianampoinimerina liess keine Strassen
bauen. Die Handelsprodukte wurden - von Sklaven - auf dem Rücken
befördert, das Rad wurde noch nicht benutzt. Einzig die Kanäle
der Bewässerungsgräben wurden mit Pirogen zum
Warentransport benutzt.
Die
Friedensperiode in Imerina führte auch dazu, dass sich landlose
Bauern auf der Suche nach unbebautem Land begaben und auch in
Gegenden gingen, die bislang als unsicher galten, doch durch die
Errichtung von Befestigungen und die dort stationierten Militärs
geschützt waren. Die
Soldaten der Garnisonen stammten oft aus Avaradrano, der Region
nördlich von Antananarivo. Begleitet waren sie von königlichen Sklaven (tsiarondahy)
und von gewöhnlichen Sklaven.
Andrianampoinimerina,
ein Zeitgenosse Napoléons, wird bis in die heutige Zeit in
Merinaland als grosser, charismatischer König
geehrt. Obwohl er autoritär und feudal regierte, schaffte
er durch eine strikte Machtdurchsetzung Ordnung und Frieden und
so eine Grundlage für die ökonomische Entwicklung von
Imerina.
Von
den vielleicht zwanzig Händlern, die während der
Regierungszeit des Königs Andrianampoinimerina nach Imerina
kamen, hinterliess einzig Barthélémy Hugon eine kurze
Beschreibung des damals etwa 50-jährigen Königs, den
er 1808 traf. Da
die Händler normalerweise nicht weiter als bis zum Marktort
von Ambatomanga (25 km östlich von Antananarivo) gehen
durften, bleibt unklar, wie viele Europäer
Andrianampoinimerina gesehen haben. Womöglich traf auch der
Händler Chardenoux mit dem König zusammen.
Andrianampoinimerina
starb 1810 und wurde in Ambohimanga feierlich begraben. Er hatte
seinen Sohn Radama schon frühzeitig auf seine künftige Rolle
vorbereitet, indem er ihn auf Eroberungsexpeditionen in den Süden
und Westen geschickt hatte.
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