Situation
in Madagaskar um 1800
Um
1800 war die grosse Insel Madagaskar keineswegs geeint. Die
zahlreichen Völker lebten relativ isoliert voneinander und
widmeten sich ihrem von Tradition und Ahnen geleiteten Leben.
Konflikte mit Nachbargruppen waren zwar häufig und führten
auch zu Kriegen und Unterwerfungen, zu Allianzen und Verbrüderungen.
Die Bündnisse ebenso wie die Eroberungen zerfielen aber sehr
schnell wieder, letztlich beschränkte sich jedes Volk auf
sich selber. Wohl gab es tributpflichtige Völker, aber
keine Ethnie übte eine nachhaltige militärisch-politische
Dominanz über eine andere Volksgruppe aus. Expansion - wenn überhaupt
- erfolgte aufgrund unstabiler Verhältnisse oder Schwächen
der Nachbarn und nicht aufgrund gezielter Ausweitung des eigenen
Territoriums.
Die
Einflüsse von aussen machten sich in unterschiedlichem Mass
bemerkbar. Während die Küstenvölker öfters - und
dies teilweise schon seit Generationen - in Handelskontakt mit
europäischen und arabischen Seefahrern standen, blieb
dieser Einfluss im isolierten Binnenland sehr beschränkt.
Und doch machte er sich bemerkbar: insbesonders Gewehre und
Pulver waren begehrte Objekte geworden. Zudem gelangten immer
mehr Europäer auf das Hochland und verdingten sich als
Militärinstruktoren. Doch keine Macht nutzte dieses
Potential - ausser Imerina. Dieses Reich erstreckte sich um 1800
in einem ovalem Kreis um die Stadt Antananarivo im zentralen
Hochland und träumte von einem Meeresanschluss, um der
Binnensituation zu entgehen und einen direkten Zugang zu den
ersehnten Gütern (besonders Waffen) zu erhalten. Ausgehend von
einer inneren Reorganisation und basierend auf der Produktion
von Reis hatte Andrianampoinimerina dieses Ziel mit aller
Energie vorangetrieben, blieb aber ein traditioneller, wenn auch
starker Herrscher. Erst sein Nachfolger Radama I sollte durch
grundlegende Reformen und einer effizienten Neustrukturierung
der Armee zum erhofften Erfolg gelangen.
Die
Betsileo waren um 1800 aufgesplittet in mehrere Reiche, die kaum
über eine grössere Ausstrahlung verfügten. Das gleiche
galt für die Sakalava. Sie verfügten zwar im Menabe und in
Boina über grössere Königreiche und über
weitreichende Handelsmöglichkeiten. Doch eine politisch
einigende Kraft ging von ihnen nicht aus. Sie betrachteten das
Hinterland einzig als Lieferant für Sklaven und zogen immer
wieder zu Razzien aufs Hochland hinauf. Ebenso begnügten sich
die etlichen Völker der Südostküste mit ihrem Schicksal.
Die Einheit der Betsimisaraka war wieder in einen Mikrokosmos
zerfallen: unzählige Lokalherrscher dominierten über
jeweils kleine Territorien.
An
den Küsten machten sich die Engländer im Zuge der
napoleonischen Kriege vermehrt bemerkbar. Die Ostküste gelangte
gar unter ihre direkte Kontrolle, die jedoch weitgehend fiktiv
blieb. Die Insel Mauritius kam allerdings nachhaltig in
englischen Besitz. Von dort aus wurden die Ereignisse auf
Madagaskar genau verfolgt: einerseits um den notwendigen
Nachschub (Nahrungsmittel und Sklaven) zu garantieren,
andererseits aber auch in Kolonialkonkurrenz zu Frankreich,
dessen Schiffe nach wie vor um die Insel kreisten, und das noch
immer von einer Besitznahme träumte. Die Engländer
erkannten, dass Imerina als expansive Kraft wohl die sicherste
Karte war und am meisten Chancen bot, ein madagassisches
Gegengewicht zu Frankreich zu bilden. So wurde Imerina fortan
gezielt und tatkräftig unterstützt. Die Franzosen verfügten
nicht über diese Weitsicht. Sie nahmen aber jede Chance einer
Gebietsbesetzung wahr. Während also die Engländer aus
der Ferne agierten, tummelten sich die Franzosen eher an der
Front. Frühere Seemächte wie Portugal und Holland zeigten
sich nicht mehr an der Insel interessiert.
Ausser
Imerina suchte keine madagassische Volksgruppe, sich gezielt zu
vergrössern. Und nur Imerina hatte zu Beginn des 19.
Jahrhunderts die innere Reife und den politischen Willen
erlangt, um dieses Vorhaben auszuführen. Dabei gelangten
erstmals Völker unter die Zentralherrschaft einer
ausserregionalen Macht. Die Merina trafen fast überall auf
Widerstand, doch ihre tausende von Kriegern bestehende Armee
rollte jeglichen Widerstand beiseite. Die Besiegten unterwarfen
sich oder reagierten mit Verrat, Flucht oder geschicktem
Taktieren. Oder aber sie suchten Hilfe bei Aussenmächten
wie Frankreich und Zansibar. Die kriegerische Unterwerfung
geschah oft erstaunlich mühelos - doch die bleibende
Inbesitznahme der eroberten Gebiete machte Mühe und liess sich
nur durch Armeeposten verwirklichen. Die Merina wurden zur
Okkupationsmacht im Land.
Vor
1800 hatte die Kirchen noch keine entscheidende Rolle gespielt.
Die Missionisierungsbemühungen waren erfolglos geblieben.
Versucht hatten es nur die Katholiken. Doch mit der Erstarkung
der Merina und ihrer Unterstützung durch die Engländer
kamen protestantisch-calvinistische Missionare ins Land: als
Religionslehrer und als technische Entwicklungshelfer.
Merinaland wurde protestantisch, machte einen technologischen
Sprung und begab sich auf den Weg, ein den damaligen europäischen
Republiken durchaus vergleichbares Staatsgebilde zu werden.
Frankreich
blieb letztlich Sieger: die Kräfte der Merina, unterstützt
durch die Engländer, schufen ein Reich, das die Franzosen
gegen Ende des 19. Jahrhunderts als erntereif betrachteten.
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