Expansion
und innenpolitische Entwicklung
der
Merina
Im
19. Jahrhundert versuchten die Merina-Herrscher, ihren
Herrschaftsbereich auf die ganze Insel auszudehnen. Die
Staatenbildung beruhte auf militärischer Macht und war ohne
Hilfe von aussen (Waffen, militärisches Know-how) nicht möglich,
wurde aber von den erstarkten Merina zur Doktrin erhoben. Die
jahrhundertealte Isolation gegen aussen wurde aufgegeben, um an
die begehrten Güter (vor allem Waffen) heranzukommen. Mit dem
Handelsaustausch entstanden Probleme der politischen Annäherung
Madagaskars an Europa und der Akzeptanz der madagassischen
Souveränität durch die europäischen Mächte.
Nach einer vorsichtigen Öffnung zu Beginn des 19.
Jahrhunderts kam eine immer stärkere Schliessung Mitte des
Jahrhunderts, gefolgt von einer totalen Öffnung, der dann
wieder eine restriktivere Aussenpolitik folgte.
Die
Merina spielten die Kolonialkonkurrenz (Militär, Kirche,
Handel) der Engländer und Franzosen geschickt gegeneinander
aus. In der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren die Engländer
im Vorteil, der Protestantismus wurde gar zur Staatsreligion.
Doch gegen Ende des Jahrhunderts rissen die Franzosen die
Dominanz mit militärischer Macht an sich, nachdem sie sich
mit England über die Einflusssphären in Afrika
abgesprochen hatten. Die Franzosen waren infolge der Bedürfnisse
(Reis und Vieh) ihres Territoriums in La Réunion unter grösserem
Zugzwang.
Andrianampoinimerina
hatte noch zu seinen Lebzeiten seinen ältesten Sohn
Lehidama als Nachfolger ernannt, der 1810 als 18-jähriger
auf den Thron von Imerina kam und sich den Königsnamen
Radama I gab.
Ein
Gemälde des französischen Malers André Copalle von
1826 zeigt Radama I in schmucker napoleonischer Uniform, mit
kniehohen Reitstiefeln, Goldverzierungen auf der Brust und einem
dekorativen Säbel. Dieses Bild gibt ziemlich genau den
Lebensinhalt des jungen Königs wider: Radama fühlte sich
in erster Linie als Krieger und Kämpfer, bewunderte Napoléon
und liebte pompöse Truppenparaden.
Drei
Aspekte kennzeichnen seine bis 1828 dauernde, aufgeklärt-despotische
Herrschaft: Expansion durch Eroberung, Festigung der Herrschaft
und eine dosierte Öffnung gegen aussen.
Trotz
der Aufgeschlossenheit gegenüber europäischen Ideen und
Methoden blieb er ein traditioneller Monarch im Sinne von
Andrianampoinimerina: er hörte seine Berater an, in öffentlichen
kabary in Antananarivo oder in Ambohimanga liess er seine
Entscheide vom Volk gutheissen, er feierte jedes Jahr das
fandroana (königliches Bad), das ihn in seiner Rolle als
oberster Chef bestätigte.
Trotzdem
schaffte er die sampy (magische Talismane) ab und reduzierte den
Gebrauch des Gifttests (tangena) bei Gerichtsverfahren.
Er
verstand es auch geschickt, die Interessen der Engländer
gegen jene der Franzosen auszuspielen und für sich zu nutzen.
Sogleich
nach dem Tod von Andrianampoinimerina erhoben sich die
Bezanozano im Osten, Radama eilte mit seiner Armee hin. Kaum war
die Gegend um den Lac Alaotra wieder unter seiner Kontrolle,
brach er im April 1811 nach Betsileoland auf, um eine Rebellion
niederzuschlagen. Die Armee zog weiter südlich bis zum Felsen
von Ifandana, wo sich die Verteidiger in ihrer aussichtslosen
Lage vom Festungsfelsen in den Tod stürzten.
Die
napoleonischen Kriege wirkten sich bis in den Indischen Ozean
aus. 1810 besetzte England die Ile Bourbon (La Réunion) und Ile
de France (Mauritius). Sir Robert Farquhar, ein Beamter der East
Indian Company, wurde 1815 britischer Gouverneur von Mauritius
und spielte fortan eine aktive Rolle bezüglich der Entwicklung
Madagaskars.
Sylvain
Roux, ein französischer Händler, der seit 1804 in
Tamatave tätig war und die politische Macht an sich
gerissen hatte, musste die Stadt 1811 den Engländern übergeben,
sie nahmen auch - nur theoretisch - Besitz der Ostküste
Madagaskars. Entsprechend den Verträgen vom 30. Mai 1814
und 1815 erhielten die Franzosen die Insel La Réunion zurück,
England behielt Mauritius. Madagaskar blieb in den Verträgen
ungenannt.
Die
Konkurrenz zwischen den beiden Seemächten England und
Frankreich um Einfluss und Landnahme in Afrika ging unvermindert
weiter und betraf auch den Anspruch auf die Insel Madagaskar.
Frankreich berief sich auf ein Gewohnheitsrecht: seit der Zeit
von Richelieu und der Kolonialpolitik von Colbert im 17.
Jahrhundert beanspruchte Frankreich die grosse Insel für sich.
England
hatte versucht, sich in der Bucht von Saint-Augustin
niederzulassen und stand im 18. Jahrhundert in Handelskontakt
mit einigen Häfen an der Ostküste. Doch erst im 19.
Jahrhundert begann sich England wirklich für Madagaskar zu
interessieren: eher als Konkurrenzhaltung gegenüber Frankreich.
Englands
Interessen waren philanthropischer Art (Abschaffung der
Sklaverei) und sicher auch handelspolitischer Art (Einbeziehen
Madagaskars in die englische Einflusssphäre). Farquhar kam
nach eingehenden Studien zum Schluss, dass das Merina-Königtum
am ehesten für diese Ziele zu benutzen sei. Somit gewährte
er dem Merina-König eine aktive Unterstützung zur Stärkung
des Merina-Reiches, wohl auch, um dadurch eine Kolonialisierung
der Franzosen zu verhindern.
Die
Plantagen von La Réunion waren eher auf Sklaven angewiesen als
jene von Mauritius, weil die Planteurs von Mauritius indische
Coolies für die Arbeit holten. (Während 1807 in
Grossbritannien und allen britisch dominierten Regionen die
Sklaverei abgeschafft worden war, verlangten die Planteurs auf
Mauritius nach 40’000 neuen Sklaven. Farquhar unterstützte in
einer ersten Zeit ihr Gesuch.) Zudem war Mauritius - ab Mitte
des Jahrhunderts - unabhängiger von Nahrungsmitteleinfuhren
(Reis und Vieh) als La Réunion mit seiner starken Ausrichtung
auf Exportkulturen.
Für
das Merina-Reich bildete der Verkauf von Sklaven (meist
Kriegsgefangene und Sträflinge) einen wesentlichen Teil des
Exporteinkommens. Pro verkauften Sklaven erhielt der König
einen Piaster. Auch die Oberschicht verdiente am Sklavenhandel tüchtig
mit.
Die
Sklaven wurden in Tamatave - dem Fenster des Merina-Reiches zum
Meer hin - gegen Waffen und Schiesspulver getauscht. Daher führte
auch eine Militärexpedition des jungen Königs Radama
nach Tamatave (1817), um den mpanjakamena Jean-René zu
unterwerfen und sich so einen direkten Meereszugang zu sichern.
Sir
Robert Farquhar liess sich von Händlern über die Lage in
Madagaskar genauestens informieren und setzte fortan konsequent
auf die Karte 'Radama'. Er sandte 1816 den in Mauritius
stationierten ehemaligen Sklavenhändler Chardenoux auf eine
informelle Reise nach Antananarivo. Chardenoux hatte schon
etliche Reisen nach Madagaskar gemacht und kannte auch Radama I.
Er brachte zwei Halbbrüder des Königs Radama mit nach
Mauritius, um sie zu unterrichten. Noch im gleichen Jahr 1816
sandte Farquhar den Militärberater Lesage, der die ersten
Verhandlungen über einen Freundschaftsvertrag zwischen Imerina
und Grossbritannien führte. Die Frage der Sklaverei wurde noch
nicht angeschnitten. (Mit dabei waren auch Chardenoux und
Sergant Brady.)
Im
kommenden Jahr zog Radama an der Spitze von 30’000 Mann an die
Ostküste, um den Lokalherrscher Jean-René zu unterwerfen und
damit den Hafen von Tamatave für den Aussenhandel zu öffnen.
Gleichzeitig nahm Radama seine beiden Brüder Ratafika und
Rahovy in Empfang, die von ihrem Studienaufenthalt auf Mauritius
unter der Anleitung von Hastie zurückkehrten. Hastie hatte auch
Pferde für Radama mitgebracht. Zudem gingen 1820 neun junge
Madagassen - unter ihnen der spätere Historiker Raombana -
nach England zu Ausbildungszwecken, sechs weitere wurden in
Mauritius ausgebildet.
In
den kommenden Monaten üerzeugte Hastie den jungen Radama, dass
der Export von Sklaverei abgeschafft werden sollte und stellte
dafür reiche Finanzhilfe und Materialsendungen der Briten in
Aussicht. Hastie argumentierte gegenüber Radama, dass die
Sklaven mehr nützten, wenn sie auf den eigenen Reisfeldern
arbeiteten. Der König liess sich überreden und
unterzeichnete den Vertrag am 23. Oktober 1817 in Tamatave, während
Sergante Hastie als Vertreter des in Mauritius residierenden
britischen Gouverneurs signierte. Somit verpflichtete sich
Radama I zur Abschaffung des exportorientierten Sklavenhandels
auf der ganzen Insel und berechtigte ihn damit zu britischen
Kompensationen. Die interne Sklavenhaltung und die Versklavung
von Kriegsgefangenen blieb allerdings weiterhin bestehen. Doch
auch der Sklavenexport ging weiter, heimlich organisiert von der
Merina-Oberschicht und den an der Küste stationierten Europäern
und Mischlingen. Selbst der von Farquhar als britischer
Interessensvertreter eingesetzte Jean-René war ein bekannter
Sklavenhändler, so wie auch Belombre, der grösste von
Sklaven bewirtschaftete Gutsbetrieb der Insel Mauritius, der
Familie Farquhar gehörte.
In
diesem Vertrag wurde Radama I als König von Madagaskar
bezeichnet und die Monarchie damit von England als erster ausländischer
Macht offiziell anerkannt.
Ein
zusätzlicher Vertrag von 1820 bestätigte den ersten
und verpflichtete die Briten, Handwerksausbildner nach
Antananarivo zu senden. Noch im gleichen Jahr kamen die ersten
englischen Lehrer nach Antananarivo, in Wirklichkeit waren es
Missionare. Die etablierten Sklavenhändler waren den
Missionaren gegenüber nicht sonderlich freundlich gesinnt. Ein
weiterer Vertrag von 1823 erlaubte der britischen Marine, rings
um Madagaskar zu patrouillieren, um Sklavenschiffe abzufangen.
Diese
Verträge mit den Briten ermöglichte Radama die
Verwirklichung von drei Zielen: sein Königstitel wurde von
einer europäischen Macht anerkannt, die Kompensation
finanzierte den Aufbau einer modernen Armee und die Lehrer
halfen durch ihre technischen Kenntnisse, die Modernisierung des
Landes voranzubringen.
Dadurch
erfuhr das Merinaland, das gegenüber den anderen Gebieten
Madagaskars sowieso schon technisch und organisatorisch
weiterentwickelt war, einen Impuls, der sich bis in die heutige
Zeit auswirkt. Doch diese technische Entwicklungshilfe wurde
weitgehend für luxuriöse Arbeiten gebraucht, die nur dem
Prestige des Hofes dienten, nicht aber die Ökonomie des
Landes stimulierten - ausser dem Schulwesen.
Mit
aller Energie suchte Radama, sein Binnenland zu vergrössern
und bis ans Meer auszudehnen. So auch gegen Westen hin, wo die
Sakalava-Herrscher des Menabe ebenfalls Zugang zu Feuerwaffen
hatten. Zwar errichtete Radama eine Garnison in Mahabo, doch der
wichtigste der Sakalava-Könige, Ramitraho, widersetzte sich
ihm nachhaltig und trickreich.
1822,
nach Rückkehr von seinem erfolglosen Feldzug in den Menabe,
proklamierte Radama seinen Herrschaftsanspruch über die ganze
Insel und kam damit unweigerlich in Konflikt mit den Franzosen,
die seit 1750 nach wie vor Ste. Marie besetzt hielten. Zudem
hatte 1821 der französische Graf Grasse Fort-Dauphin mit
vier Soldaten besetzt. Diesem Unternehmen war allerdings kein
Erfolg beschieden.
(Vier
Jahre später ging Fort-Dauphin in die Hände der Merina
über.)
Die
Franzosen suchten durch ihren Verbindungsmann Sylvain Roux, der
1818 als Wissenschaftler getarnt über Ste. Marie nach Tamatave
kam, wieder Einfluss über die Betsimisaraka auf der Ostküste
zu erlangen. Dort hatten sich bereits vereinzelte Siedler aus La
Réunion niedergelassen. 1821 besetzte Sylvain Roux für
Frankreich den Hafen Tamatave, der bisherige und von den Briten
gestützte Lokalchef Jean-René widersetzte sich dieser Aktion
nicht. Roux zog nördlich nach Foulpointe und 1822 liess er
sich in Ste. Marie nieder, wo er 1823 starb. Foulpointe wurde
wenige Monate darauf von einer Merina-Armee unter Befehl von
Hastie eingenommen, der zur nachhaltigeren Sicherung des
Herrschaftsanspruchs eine Garnison vor Ort zurückliess. Nach
der Kampagne von 1823/24 führten die Merina 1829/30 einen
erneuten Feldzug gegen die unabhängigkeitswilligen
Betsimisaraka. Nachdem sich die Franzosen 1830 von der Ostküste
zurückgezogen hatten, folgten ihnen mehrere tausend
Betsimisaraka nach Ste. Marie, um der Merina-Herrschaft zu
entkommen. (In diesem Jahr starb auch Sir Robert Farquhar,
dessen Lebenswerk es war, die Bande zwischen Imerina und
Grossbritannien zu knüpfen.)
Durch
die hohen Verluste alarmiert, reorganisierte Radama mit ausländischer
Hilfe in den Jahren 1820 - 1822 seine Armee von Grund auf. Er
schuf erstmals in der Geschichte Madagaskars eine Berufsarmee,
die foloalindahy (die Hunderttausend-Mann).
Bislang
- beispielsweise beim Feldzug gegen die Betsileo mit der
Einnahme von Ifandana 1810 - 1812 oder dem Feldzug gegen die
Betsimisaraka - waren auf einem Kriegszug mehrere zehntausend
Mann unterwegs. Die Soldaten mussten sich selber ausrüsten und
bezogen keinen Sold. Nach einer Kampagne erhielten sie zwar als
Kompensation für die geleisteten Dienste einen Anteil an der
Beute (meist in Form von Sklaven). Die Truppen waren schlecht
organisiert und litten oft Hunger. Der Feldzug an die Ostküste
von 1817 kostete während eines Monats 10’000 Leute. Zudem
hielten diese Feldzüge zu viele Männer von der Feldarbeit
auf den Reisfeldern ab.
Die
Reorganisation wurde von den englischen Instruktoren Hastie und
Brady und dem französischen Korporal Robin geleitet. Die
Ausrüstung lieferten die Engländer: 100 Gewehre, 100 Fässchen
Schiesspulver, 400 komplette Uniformen. Weitere Lieferungen
folgten.
Die
Rekruten stammten in der ersten Zeit aus den reicheren Familien,
später wurden auch Rekruten aus den ärmeren
hova-Familien akzeptiert und sogar aus den Reihen der königlichen
Sklaven. Die Armee erhielt etliche Privilegien und wurde stark
hierarchisiert: der einfache Soldat hatte einen Grad, der je
nach seiner Tüchtigkeit erhöht wurde. Ein General
kommandierte 1000 Mann und hatte zehn Grade.
Um
die Disziplin zu erhöhen, wurde ein Militärreglement
eingeführt. Auf Fahnenflucht stand die Todesstrafe. Die
Soldaten mussten sich die Haare kurz schneiden. (Als Vorbild für
diese Neuerung, die entgegen den bisherigen Sitten war, liess
sich auch Radama die Haare kurz schneiden.)
Die
bürgerlichen hova bekamen mehr Gewicht in der Armeeführung,
weil sie durch Tapferkeit und Tüchtigkeit schnell Grad um Grad
höher stiegen und so bald auch militärisch höhere
Grade erreichten als die Angehörigen der adeligen Klasse
der andriana.
Bereits
ab 1825 übernahmen hova-Generäle von den andriana das
Kommando über die schnellen Einsatztruppen. (Ab dieser Zeit lag
die eigentliche Macht bei den Militärs und den
Staatsverwaltern, die durch die Beherrschung von moderner
Kriegskunst und der Schrift - beides von Europäern eingeführt
- die traditionelle Ordnung der Monarchie zu überschatten
begannen.)
Die
Militärs (miaramila) bezogen auch nach dieser Militärreform
keinen Sold, sie hatten aber weiterhin Anrecht auf Beutegut,
zudem war der Prestigewert der von den Engländern
gelieferten roten Uniformen ausserordentlich hoch, ebenso wie
jener der Grade.
An
der Spitze seiner Truppen war der Merina-König Radama
einmal in Betsileoland (1811), dreimal im Menabe (1820:
Niederlage; 1821: Niederlage; 1822: Erfolg), dreimal in
Betsimisaraka (1817; 1823/24 und 1827), einmal im Norden (1824)
und zweimal in der Region des Lac Alaotra (1811; 1817).
Die
mit 13’000 Mann erfolgte Expedition in den Menabe (1822)
zeigte eine neue Effizienz dieser Armee. Radama erreichte den
Ort Mahabo, wo er aus Allianzgründen Rasalimo, die Tochter des
regierenden Ramitraho heiratete und zu seiner Hauptfrau (vadi-be:
dh Vorsteherin der anderen 11 Ehefrauen) machte. (Rasalimo
unternahm zwar 1826 einen Fluchtversuch, ergab sich dann aber
wohl ihrem Schicksal und starb 1866 hochgeachtet in Antananarivo
und hatte ihrerseits zu einem besseren Verständnis zwischen
den Sakalava und den Merina beigetragen).
Merina-Garnisonen
wurden an strategischen Punkten errichtet, so entstand unter
anderem der Ort Tsiroanomandidy. Die Sakalava des Menabe jedoch
rebellierten gegen die Garnisonen, Ramitraho hielt die
Merina-Unterhändler trickreich während Jahren hin.
(Sogar Rasalimo, von Radama 1826 mit 1000 Mann unter dem
Kommando von Robin in den Menabe geschickt, schaffte es nicht,
ihren sich versteckt haltenden Vater zu finden.) Der Menabe
wurde von den Merina zwar militärisch erobert, doch
effektiv nicht beherrscht.
Gleich
nach der Kampagne gegen den Menabe folgte 1823 ein Feldzug an
die Ostküste, wo sich der wendige Händler und
Lokalherrscher Jean-René erneut auf die Seite der Merina schlug
und für sie gar den Küstenstreifen bis nach Mananjary
eroberte. Radama seinerseits zog der Küste nach hoch bis nach
Vohémar und nach Diégo-Suarez. Der Feldzug dauerte bis 1824
und setzte sich in einem Kleinkrieg bis 1827 fort. An der Ostküste
wurden mehrere Merina-Garnisonen stationiert. Diese
Befestigungsanlagen wurden jeweils etwas versetzt im Hinterland
erbaut, aber noch in Kanonennähe des jeweiligen Hafens.
Nur
fünf Monate später folgte 1824 eine Expedition nach Boina.
Dort war der Sakalava-König Andriantsoly, ein Nachkomme von
Königin Ravahiny, zum Islam übergetreten und hatte so die
Unterstützung von moslemischen Staaten in Mozambique, Zansibar
und den Komoren erhalten. Den moslemischen Antalaotra, die für
ihn den Aussenhandel abwickelten, erhielten noch mehr Freiraum.
Den expansiven Hochlandkönig Radama I hingegen betrachtete
er als Konkurrent und Feind. Andriantsoly wurde von den militärisch
überlegenen, 14’000 Mann starken Merina-Truppen besiegt und
Mahajanga eingenommen (1824). Doch kaum war der Hauptharst der
Merina-Armee abgezogen, erhob sich 1825 der Boina trotz der
Merina-Garnisonen am unteren Betsiboka gegen die fremde
Okkupation. Andriantsoly floh schliesslich 1826 nach einer
erfolglosen Meuterei auf die benachbarten Komoren.
Radama
schickte 1825 Ramananolona mit 3000 Mann in den Süden nach
Fort-Dauphin, der den Ort ohne Mühe in Besitz nahm und dort
Gouverneur wurde. (Der Ort war ab 1821 bloss von fünf französischen
Militärs - eher symbolisch - besetzt gewesen.)
Durch
diese Feldzüge von 1822 - 1827 hatte Radama zwar grosse Teile
der Insel militärisch erobert, die Besiegten mussten ihre
Waffen abgeben und dem Merina-Herrscher Tribut zahlen, doch nach
Abzug der Truppen kam es häufig zu Meutereien gegen die zurückgelassenen
Garnisonen, die oft militärisch unterdotiert waren. Nur die
grossen Militärposten wie Mahajanga, Mahabo und Foulpointe
waren mit 1000 Mann besetzt, Tamatave sogar mit 2000 Mann.
Zur
Erhöhung der militärischen Schlagkraft warben die
Garnisonen auch lokale Soldaten an, man nannte sie miaramila
lava-volo, Soldaten mit langen Haaren im Gegensatz zu den
kurzgeschorenen Merina-Soldaten.
Die
Garnisonen mussten sich selbst ernähren, so entstanden in
der Umgebung der Festungen die Pflanzfelder der Soldaten und
dadurch fand der Anbau von Reis eine weitere Verbreitung. Im
Umkreis der Garnisonen liessen sich oft auch zugewanderte,
zivile Merina-Siedler (borizano) und Händler nieder.
Dadurch
entwickelten sich im Laufe der Zeit etliche der Garnisonen auch
zu Handelsposten und kleinen Städten.
Effektiv
beherrschten die Merina nur strategische Punkte an den Küsten
(Fort-Dauphin, Morondava, Küstengebiet von Mahajanga, Vohémar,
Teile der Ostküste, Mananjary) und die unmittelbare Umgebung
der Garnisonen. Die dort stationierten Gouverneure verfügten über
eine fast absolute Macht im Namen des Königs, nur die
Todesstrafe durften sie nicht verhängen.
Trotz
der aggressiven Expansionspolitik entgingen weite Teile
Madagaskars (Süden, Westen, Norden) der Kontrolle der Merina.
Und auch die eroberten Gebiete standen nur theoretisch unter der
Herrschaft der Merina-Gouverneure. Die zurückgelassenen
Garnisonen konnten diese Gebiete nach Abzug der Haupttruppe kaum
gegenüber den immer wieder aufflackernden Aufständen
halten. Zu Aufständen kam es auch, als Jean-René 1826
starb, was einen neuen Feldzug gegen die Ostküste (1827) benötigte.
'Ny riaka no valam parihiko' (Das Meer ist die Grenze meiner
Reisfelder), das Testament von Andrianampoinimerina war jedoch
noch nicht erfüllt.
Doch
dem energischen König war es innerhalb weniger Jahre
gelungen, der Enklave Imerina Zugänge zum Meer zu
verschaffen. Einerseits gegen Osten zum wichtigen Hafen Tamatave,
dann gegen Nordwesten nach Mahajanga und gegen Westen nach
Morondava. Damit hatte er Zugang zum Warenaustausch mit fremden
Mächten und somit zu Waffen. Dies ermöglichte den
Aufbau von noch mehr Macht.
Die
Bedeutung der Häfen von Antongil und Foulpointe nahm zu
Beginn des 19. Jahrhunderts ab, Fénérive gewann dank eines
besseren Hafens an Wichtigkeit, wurde aber seinerseits während
der Herrschaft von Radama I durch das bislang kleine Fischerdorf
Tamatave abgelöst. Radama, in seinem Bestreben, den
Exporthandel mit den Europäern zu kontrollieren, hatte
Tamatave zum neuen Exporthafen bestimmt.
Radama
führte das Erbe getreu im Sinne von Andrianampoinimerina weiter
und verbrachte viel Zeit mit Feldzügen und mit Fragen der
Armee. Für die Organisation des Staatsapparates hatte er
weniger Zeit. Ausserhalb von Militärangelegenheiten führte
er im wesentlichen die Herrschaft von Andrianampoinimerina unverändert
weiter.
Das
Volk nahm fortan nicht mehr direkt an den Feldzügen teil. Die
Zivilisten (borizano) galten weniger als die einfachen Soldaten,
mussten die Armee jedoch durch Militärsteuern unterstützen.
Zudem mussten die borizano mehrere Tage pro Woche Fronarbeit für
den Staat leisten.
Im
Kerngebiet von Imerina herrschte Frieden. Dies führte dazu,
dass die Leute ihre auf Bergkuppen gelegenen befestigten Dörfer
verliessen (weil sie oft ohne Wasser waren und der Weg zu den
Reisfelder weit war) und sich in der Nähe der Reisfelder
niederliessen und dazu hohe Mauern (tamboho) errichteten. In
Imamo mit seiner unsicheren Westgrenze hingegen wurden Dorfgräben
bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts gegraben und
unterhalten.
Zur
Verminderung der Feuergefahr empfahl Radama, die Häuser mit
Schindeln statt wie bisher mit Stroh zu decken. Um den
Viehbestand ansteigen zu lassen, verbot er das Schlachten von Kühen
auf den Märkten. Die Sklavenbesitzer mussten eine Steuer
zahlen, der Sklavenexport wurde offiziell verboten.
Den
Verkehrswegen widmete Radama etwas mehr Aufmerksamkeit als
Andrianampoinimerina. Er veranlasste den Bau von Steinbrücken
in Tanjombato (südlich von Antananarivo), Ampitatafika
(westlich der Stadt) und in Ambanila über die Flüsse Ikopa und
Sisaony. An der Ostküste liess er 1823 durch 800 Mann die Seen
der Pangalana-Ebene südlich von Tamatave miteinander verbinden,
damit die Güter auf einem Teil der Wegstrecke auf Booten
transportiert werden konnten.
Strassen
baute er allerdings - wie sein Vater - keine, ausser gerade in
unmittelbarer Umgebung der Hauptstadt, die damals rund 15’000
Einwohner zählte.
Eine
eigenwillige Idee liess ihn ein Mammutprojekt starten, das nie
vollendet wurde. Weil der Hügel von Ambohijanahary den Blick
von seiner Residenz auf der rova zur Betsimitatatra-Ebene
verstellte, wollte er diesen Hügel abtragen lassen. Die Spuren
der begonnenen Arbeiten sind heute noch wie eine Schramme an der
Hügelflanke zu sehen.
In
die Herrschaftszeit Radama fällt auch die allmähliche
Niederlassung der ersten Colons an der Ostküste. So etwa der
aus Kreta stammende Nicolas Lambros, der in den 1820er Jahren
eine Zuckerrohrplantage anlegte und Zucker und Rum herstellte.
Dem im Tal des Flusses Mananjary tätige Lambros wird auch
der Bau der ersten Ochsenkarren zugeschrieben, die er für den
Transport von Zuckerrohr nutzte.
Die
Europäer führten auch neue Pflanzenarten ein: Kaffee,
Vanille, Fruchtbäume.
Während
der Herrschaft Radama entstand aber auch Unzufriedenheit. Die
alten Militärchefs der noblen andriana, die sich einerseits
durch die aufstrebenden hova entmachtet sahen und sich
andererseits durch den ungehinderten Sklavenhandel nicht mehr
unkontrolliert bereichern konnten, wünschten sich eine Rückbesinnung
auf das alte System, wünschten die Annullierung des Vertrages
mit England und eine Rückkehr zur Isolierung Madagaskars. Die Händler
allerdings waren mit dem neuen Warenverkehr mit den Engländern
zufrieden.
In
Antananarivo machte sich der Einfluss der Europäer bald
bemerkbar. Der Zugang zu Antananarivo war bislang den Fremden
untersagt gewesen. Sie mussten ihre Produkte in den peripheren Märken
feilbieten, vor allem in Ambatomanga (östlich der Stadt
Antananarivo). Farquhar schlug dem König schon 1815 vor,
die Fremden doch in die Stadt einzulassen, was von Radama zwar
akzeptiert wurde, nicht aber von seinen Beratern.
Radama
öffnete Imerina nicht nur für Handel, sondern auch für
neue Technologien und in ihrem Fahrwasser dem Christentum. 1818
hatte der Missionar der London Missionary Society (L.M.S.),
Reverend Jones, in Tamatave eine erste Schule gegründet und ein
erstes Wörterbuch der madagassischen Sprache erstellt.
Ab
1820 wirkte Jones, ergänzt durch Griffiths, im
Schulunterricht in Antananarivo. 1822 und 1828 kamen
Missionshandwerker (Schmied, Weber, Ledermacher, Zimmermann)
nach Antananarivo, unter ihnen der Schotte Cameron. Diese ersten
'Entwicklungshelfer' unterrichteten die Merina-Schüler in den
verschiedenen Fertigkeiten, was von Radama sehr unterstützt
wurde. Radama duldete auch die Verbreitung des Christentums,
obwohl sich die Missionare durch die Hintertür der Schule und
der Berufsbildung eingeschlichen hatten.
Dadurch
jedoch fanden neue Techniken Eingang in Merinaland. So lehrte
Canham seinen Schülern die Kunst der Weberei, Chick bildete
Schmiede aus. Das Multitalent Cameron, ein aus Schottland
stammender Weber, eröffnete zwar eine Weberschule, doch
entfaltete er seine Talente vor allem im Baubereich. Er war es,
der die Herstellung und den Gebrauch von Backsteinen (biriky)
einführte.
Auch
die Franzosen waren aktiv, denn Radama schaffte es in allen
Bereichen, die Interessen der Briten gegen jene der Franzosen
auszuspielen. Der Bauunternehmer Louis Gros konstruierte für
Radama den Königspalast von Soanierana nach Plänen des
Franzosen Casimir. Der ehemalige Haudegen Napoléons und spätere
Deserteur, Robin, wurde gleich nach seiner Ankunft 1818
Hauslehrer und Privatsekretär des für Napoléon schwärmenden
Königs Radama, gab ihm Französischunterricht und
lehrte ihn die lateinische Schrift. (Die arabische Schrift der
Antaimoro war in Imerina einige Jahre vorher eingeführt worden.
Radama hatte ein paar Schriftkundige Antaimoro an den Hof
bestellt und begonnen, die arabischen Schriftzeichen zu lernen).
1819 eröffnete Robin die erste Schule für die königliche
Familie und für Offiziere.
So
mussten die Engländer, da sie in der Anfangszeit nicht
madagassisch sprachen, mit dem König in französischer
Sprache verkehren. Sehr bald entwickelten die Europäer auch
eine Schrift für die madagassische Sprache: die Vokale wurden
nach englischem Vorbild geschrieben, die Konsonanten nach französischem
Muster. (Daher werden beispielsweise die madagassischen 'o' in
britischer Art als 'u' ausgesprochen, so etwa wird Morondava als
'Murundav' ausgesprochen.)
In
einer Resolution vom 26. März 1823 entschied Radama nach
langer Bedenkzeit, dass fortan das lateinische Alphabet die
offizielle Schrift des Merinareiches war.
Der
L.M.S.-Mitarbeiter Jeffreys erarbeitete ab 1825 eine
madagassische Grammatik. 1827 kam die erste Druckmaschine nach
Madagaskar - das erste Papier wurde 1820 eingeführt - gesandt
von der London Missionary Society. Cameron setzte sie in Betrieb
und druckte die ersten religiösen Texte auf madagassisch.
1827 konnten rund 4000 Madagassen lesen und schreiben.
Schulen
in der Umgebung von Antananarivo, aber auch in Betsileoland
wurden eröffnet. Beim Tod des Königs Radama (1828)
waren rund 40 Schulen auf dem Hochplateau in Betrieb.
Doch
die arrivierten hova schätzten nicht, dass die Missionare
in Umgehung der traditionellen Hierarchie auch den mainty
(Sklaven) und den andevo (königliche Sklaven) lesen und
schreiben beibrachten. (Doch die protestantischen Missionare
mussten ab 1832 auf königlichen Befehl den Sklaven den
Zugang zu den Schulen verweigern.)
Der
zunehmende Einfluss der Kirche und das neue Gedankengut von
Schule und Christentum minderte das Ansehen und den Respekt der
ombiasy (Wahrsager) und der einflussreichen Hüter der königlichen
Talismane (sampy). Dieser Konflikt musste eines Tages zum
Ausbruch kommen. Nicht nur die Kirche war in Imerina präsent.
Auf politischer Ebene war Grossbritannien ab Juni 1827 in
Antananarivo durch einen Repräsentanten vertreten: dieser
Posten, der praktisch eine Botschafterfunktion beinhaltete,
wurde erstmals von Dr. Robert Lyall besetzt.
Unerwartet
starb am 27. Juli 1828 der 36-jährige Radama I nach 18-jähriger
Herrschaft. Das Volk wurde, wie in solchen Fällen üblich,
erst Tage später informiert. Radama hinterliess keine Söhne
und hatte auch keinen offiziellen Nachfolger bestimmt. So folgte
ihm seine älteste Frau und Cousine, Ramavo als Ranavalona I
auf den Thron. Die Wahl dieser Nichte des Königs
Andrianampoinimerina war keineswegs unumstritten. Gleich nach
dem Begräbnis wurde der Grossteil der Angehörigen der
königlichen Familie von konkurrierenden Clans umgebracht.
So wurde auch Rakotobe, der Neffe von Radama I umgebracht, in
ihm hatten viele den Nachfolger des Königs gesehen. Ebenso
getötet wurde der Vater von Rakotobe, Prinz Ratefy, der
1820/21 im Auftrag von Radama I eine Reise nach Mauritius und
England gemacht hatte.
Ranavalona
wurde als Mann deklariert und behielt die zwölf
traditionellen Ehefrauen auf den Hügeln um Antananarivo. Daher
hätte eine Wiederheirat Komplikationen ergeben, ihre unzähligen
Liebhaber wurden stillschweigend toleriert.
Am
23. September 1829 gebar sie ihren einzigen Sohn Rakoto, den sie
- ausgerechnet - dem anglophilen Raombana zur Erziehung
anvertraute. Raombana war kurz vor der Geburt des Thronfolgers
nach siebenjährigem Studienaufenthalt aus Manchester zurückgekehrt.
(Als möglicher Vater wurde der ehrgeizige, junge Offizier
Andriamihaja genannt, der ein Jahr später unter unklaren
Umständen umgebracht wurde.)
Die
damals 40-jährige Herrscherin mit dem harten
Gesichtsausdruck war Hüterin der sampy (königliche
Talismane) der rova gewesen, eine Aufgabe, die ihr Radama I
zugesprochen hatte. Lesen und Schreiben hatte sie nicht gelernt.
Ihre Berater wechselte sie je nach Lust und Laune. Sie war eine
äusserst dominante Frau und von der fixen Idee besessen,
Madagaskar falle unter ausländische Dominanz.
Sie
muss in ihrer antieuropäischen Politik als Gegenströmung
zur erfolgten Öffnung gegenüber der Moderne und den in die
Wege geleiteten Reformen verstanden werden. Ihr auf eine Rückkehr
zu den hergebrachten Traditionen hinzielender Kurs wurde von
konservativen Kräften unterstützt, die sie auch - in einer
Art Militärputsch - an die Macht gebracht hatten.
Ranavalona
wünschte sich die traditionelle Merina-Ordnung wieder
herzustellen. Sie wurde zunehmend autoritär und fühlte
sich damit im Einklang mit den Vorfahren. Um ihre Autorität
zu stärken, wandte sich die Herrscherin erneut den sampy
und den ombiasy (Zauberer, Wahrsager) zu und liess die Giftprobe
(tangena) wieder einführen. Radama hatte dieses Gerichtsurteil
zwar nicht abgeschafft, aber kaum mehr angewandt.
Sie
betrachtete das Christentum als eine europäische
Institution und als gefährlich für Madagaskar. Die
Missionare hatten auch tatsächlich beunruhigende Ideen
ausgesät: nicht mehr der König war Gottes
Stellvertreter und selber gottähnlich sondern Christus;
Arbeitsleistung sollte entlöhnt werden und nicht mehr als
Fronarbeit für den Staat geleistet werden. Nicht mehr die
hierarchische Sozialstruktur sollte gelten, sondern ein egalitäres
Verhältnis unter Brüdern und Schwestern in Gott.
Die
in England und auf Mauritius geschulten Madagassen blieben ohne
Einfluss, wie auch die inzwischen zahlreichen ehemaligen Schüler
und Lehrlinge der Missionsschulen. Die Königin bestand auf
einer Herrschaft gemäss den Prinzipien der Vorfahren (taizan'antitra).
Die
alte Ordnung liess sich jedoch nicht mehr vollständig
durchsetzen. Während der kriegsorientierten Herrschaft von
König Radama I hatten die bürgerlichen hova-Armeeführer
erheblichen Einfluss und hohe Positionen erworben und drängten
zur Macht. Nach dem Tod des Königs übernahmen sie hohe
zivile Posten in der Administration. Dadurch waren sie Chefs des
Militärs und wichtige Elemente in der Verwaltung, die bald
begannen, auch die Ökonomie zu kontrollieren und den
Sklavenexport wieder aufzunehmen.
1832
wurde der bisherige Chefkommandant der Armee, der traditionell
denkende Rainiharo Premierminister (mpitaiza andriana) der Königin
und hielt diesen Posten bis 1852 inne. Die Funktion des mpitaiza
andriana bedeutet 'jener der sich um die Königin sorgt wie
um ein Kind', eine Beraterfunktion, der sich schon
Andrianampoinimerina und auch Radama I bedient hatten. Der aus
dem einflussreichen bürgerlichen hova-Clan der Andafiavaratra
aus Ilafy
stammende Rainiharo wurde der bevorzugte Liebhaber der Königin
und akkumulierte im Laufe seiner Amtszeit eine beträchtliche
Macht und Güter. Er unterstützte die Königin in ihrem
antichristlichen Kurs. (Später übten seine beiden Söhne
diese Funktion ebenfalls aus: beide waren erst Chefkommandanten
der Armee, bevor sie das Amt als Premierminister übernahmen.
Das Merinareich kannte nur diese drei Premierminister bis zum
Einfall der Franzosen 1895. Die Söhne von Rainiharo
schafften es, den Einfluss von Königin und Monarchie immer
deutlicher zu reduzieren. Damit beherrschte seit dem Tod von König
Radama I der hova-Familienclan der Andafiavaratra das
Merinareich.)
Die
lange Herrschaft der Königin Ranavalona von 1828 bis 1861
ist gekennzeichnet von ihrem immer wieder heftig aufflackernden
Kampf gegen die madagassischen Christen und gegen die Missionare
der L.M.S. Zwar hatte sie 1831 in einem kabary (königliche
Ansprache) erklärt, dass es jedem Madagassen freistehe,
Christ zu werden oder nicht. In Wahrheit jedoch suchte sie
zunehmend, den Einfluss der London Missionary Society zu
mindern. Noch im gleichen Jahr verbot sie Taufe und Kommunion,
ein Jahr später (1832) den Schulunterricht für Sklaven.
1834 durften die Regierungsbeamten nicht mehr schreiben und
lesen lernen.
Vielleicht
liegt einer der Gründe im Argwohn der Königin gegenüber
den calvinistischen Missionaren der L.M.S. in ihrer mangelnden
Integration ins tägliche Leben der Madagassen. Die meisten
der Missionare führten ein abgesondertes Privatleben, das der
misstrauischen Königin wohl missfiel. Nur einer der
Missionare (Rowlands) heiratete eine hova-Frau. Im Gegensatz
dazu integrierten und assimilierten sich die islamischen Fremden
ohne Probleme.
In
ihrem immer härteren Kurs gegenüber der L.M.S. versuchte
sie, ausgewählte Missionsmitarbeiter durch Einzelverträge
an sich zu binden und aus der Obhut der Mission zu lösen.
So bot sie dem Schmied Chick und dem 34-jährigen Allrounder
Cameron solche Verträge an. Cameron hatte beispielsweise
Wasserleitungen in die Stadt gelegt und zusammen mich Chick den
künstlichen Lac Anosy geschaffen. 1834 schlug die Königin
dem Missionar Cameron einen Vertrag vor, der die Herstellung von
Kanonen vorsah. (Cameron produzierte bereits ab 1829
Schiesspulver.)
Nach
dem Tod des europafreundlichen Königs Radama I änderte
sich auch die Merina-Aussenpolitik. Die Zerstörung des
englischen Einflusses vollzog Ranavalona in den ersten sieben
Jahren ihrer Herrschaft. 1828, vier Monate nach dem Tod des Königs,
kündete sie die Verträge von 1817 und 1820 mit England.
Der residente Vertreter Grossbritanniens, Lyall, wurde von ihr
nicht mehr anerkannt und 1829 gar gebeten, das Land zu
verlassen.
1829
verbot sie alle missionarischen Aktivitäten der London
Missionary Society. 1831 verbot sie das Taufen von Kindern und
Soldaten. Ab 1834 durfte nur noch in öffentlichen Schulen
unterrichtet werden. 1835 erlaubte sie den Europäern zwar,
nach ihren Sitten und Religion zu leben, die madagassischen
Christen hingegen mussten sich öffentlich zu erkennen
geben. Religiöse Bücher mussten verbrannt werden.
Christliche Offiziere wurden degradiert. Die madagassischen
Christen - ein grosser Teil davon waren Frauen - trafen sich
fortan im Geheimen. Jene, die entdeckt wurden, mussten sich der
Giftprobe (tangena) unterziehen, wurden versklavt oder in Ketten
gelegt. Viele flohen nach Mauritius und nach England. Die
Gemeinde der madagassischen Christen in Mauritius machte bald
rund 20’000 Personen aus.
Die
Christin Rasalama erlitt als erste den Märtyrertod, als sie
1837 im Stadtteil Ampohipotsy mit Speeren durchbohrt wurde. Den
Madagassen war nur noch das Folgen von technischen Lehrgängen
in den Lehrstätten der Europäer erlaubt, daneben war
der Umgang mit ihnen laut Dekret verboten.
Die
härtere Gangart der Königin veranlasste die Engländer
1835, fast 16 Jahre nach der Ankunft des ersten Missionars in
Tamatave, das Land zu verlassen und sich nach Mauritius zurückzuziehen.
Nur Johns und Baker blieben noch bis 1836, um ein
madagassisch-englisches Wörterbuch zu vollenden.
Die
Periode von 1836 bis 1861 wird seither von den madagassischen
Christen als dunkle Zeit charakterisiert, als tany maizina (wörtlich:
die in die Dunkelheit getauchte Erde).
Trotzdem
blieben einzelne Kontakte mit der Aussenwelt bestehen. 1838 kam
Johns auf einen kurzen Aufenthalt nach Tamatave, um
madagassische Christen nach Mauritius zu schmuggeln, die in
England zu Priestern ausgebildet werden sollten. Im gleichen
Jahr gelangte der Missionar Griffiths bis nach Antananarivo,
sich offiziell als Geschäftsmann ausgebend. 1840 floh er
mit 60 Christen, wurde aber von einem Führer verraten.
Rev.
William Ellis, Sekretär der London Missionary Society,
hielt sich 1853 für kurze Zeit in Tamatave auf. (Er hatte 1838
eine heute noch lesenswerte Geschichte Madagaskars publiziert,
15 Jahre bevor er selber Fuss auf die Insel setzte. Dabei hatte
er sich auf Berichte der L.M.S.-Missionare gestützt, die seit
1818 in Madagaskar tätig waren. Erst 1856 schaffte er es
endlich bis zur Hauptstadt.)
Interessant
ist, dass die Königin weiterhin einen 'europäischen'
Lebensstil beibehielt ebenso wie Kleider in victorianischem Stil
trug, während die wenigen Besucher der Hauptstadt, so
Ellis, die Höflinge in arabischen Kleidern vorfand, mit
einem halbmondgeschmückten Turban auf dem Kopf.
Der
Abzug der Engländer begünstigte die Position der französischen
Händler. Mit Erlaubnis von Radama I hatte ein Franzose aus
Saint-Malo, Napoléon De Lastelle, 1828 eine Zuckerfabrik in
Mahela (nördlich von Mananjary) in Betrieb genommen und tätigte
verschiedene Import- und Export-Geschäfte. Anlässlich
seiner Vertragsverlängerung von 1829 gewährte
Ranavalona dem Franzosen De Lastelle, als Repräsentant des
Handelshauses Rontaunay (Bourbon), das Monopol für die
Herstellung von Alkohol (arack) für die Dauer von 20 Jahren,
wobei der Profit zwischen der Königin und den Franzosen
geteilt werden sollte. Napoléon De Lastelle, der auch in
Tamatave und in Mananjary tätig war, wurde fortan der
offizielle Importeur (vor allem von Waffen) und Exporteur des Königreiches
und durfte in mehreren Häfen der Ostküste (Fénérive,
Mahanoro, Mananjary) Zollgebühren verlangen. Auf de Lastelle
geht auch der Bau des ersten Segelfrachters namens
Tsidroamandidy im Auftrag der Merinamonarchie zurück. (An der
Westküste wurden jedoch schon seit langer Zeit Frachtschiffe
gebaut, die den arabischen Dhows nachempfunden sind. Diese
Schiffbautradition hat sich bis heute erhalten, so etwa in
Morondava.)
Ein
unerwarteter Impuls für Imerina kam von einem Schiffsbrüchigen,
der um 1831 oder 1832 in der Nähe von
Mananjary an Land gespült wurde. Der junge Franzose,
Jean-Baptiste Laborde, traf in Mananjary auf Napoléon De
Lastelle und lernte dort auch gleich seine künftige Ehefrau,
Emilie Roux, kennen.
Der
27-jährige Laborde hatte in Indien bereits kleine Kanonen
hergestellt und De Lastelle wusste, dass die Königin fähige
Handwerker und Techniker suchte, die Waffen und Schiesspulver
herstellen konnten. Unverzüglich stellte er seinem Landsmann
ein Empfehlungsschreiben an die Königin aus, die ihn, wie
so viele, erst einmal ein halbes Jahr vor den Toren der Stadt
warten liess. Doch nach erfolgter Audienz erhielt Laborde sofort
einen zweijährigen Testvertrag und eine
Aufenthaltsbewilligung von zehn Jahren. Diese Zeitspanne war
damals auch für die Aufenthaltsgenehmigungen der Missionare üblich.
Laborde
sollte in erster Linie Kriegsgeräte herstellen und Fachkräfte
ausbilden: 4000 Gewehre, die ihm die Königin für einen
Piaster pro Stück abkaufte, wobei Arbeitskräfte und
Material vom Reich gestellt wurden. Erst arbeitete Laborde in
Antanamanjaka, drei Kilometer von Ilafy entfernt, wo ein anderer
Franzose (Droit) bereits eine Giesserei zur Waffenherstellung
betrieb. 1837 verlegte er die Produktion nach Mantasoa (61 km
östlich der Hauptstadt) und baute dort mit 20’000
Zwangsarbeitern das erste Industriezentrum Madagaskars auf, das
er soatsimanampiovana (das unveränderlich Schöne)
taufte. Fortan produzierte er mit 1200
Zwangsarbeitern, verurteilten
Christen und Sklaven Gewehre, Kanonen (gekennzeichnet mit R.M.:
Ranavalona Manjaka, Ranavalona Königin), Schiesspulver,
Glas, Seife, Wein, Sirup, Käse. Über den 130 Kilometer
entfernten Hafen in Mahanoro, wo De Lastelle aktiv war,
importierte er die nötigen Maschinen aus Frankreich und
Kupfer aus Ceylon.
Diese
Industrieprodukte gaben dem zunehmend isolierten madagassischen
Staat eine gewisse Autonomie. Die Königin besuchte Mantasoa
1847 - im Gefolge von 20’000 Personen. Zufrieden mit den
Anlagen, die gar einen Schmelzofen beinhalteten, übergab die Königin
dem unersetzlichen Laborde mehrere Male grosse Summen Geld, die
sie dem Volk durch Sondersteuern abgepresst hatte. Offen bleibt
die Frage, ob Laborde wirklich alle Kanonen selbst herstellte -
oder die besseren Stücke nicht via den verschwiegenen Hafen
seines Freundes De Lastelle in Mahela importiert waren. (Eine
Kanone unbekannter Herkunft findet sich seltsamerweise in
Lourdes, gekennzeichnet mit R.M.) Die Königin zeigte sich
gegenüber Laborde auch sonst immer wieder aufmerksam: als seine
Frau Emilie ihn betrog, liess Ranavalona den Liebhaber
exekutieren und stellte Emilie unter Hausarrest.
Laborde
war nicht nur in seinen Industriebetrieben in Mantasoa tätig.
Für die Königin baute er auf der rova in Antananarivo 1839
den 39 Meter hohen Holzpalast Manjakamiadana. (Der riesige
Baumstamm für den Zentralpfeiler wurde von 5000 Sklaven aus den
östlichen Waldgebieten hergeschleppt. Dieser Palast wurde
1868/73 vom wieder zurückgekehrten James Cameron mit einem
Steinmantel umgeben, der heute noch der dominante Blickfang hoch
über der Stadt Antananarivo ist. Der hölzerne Innenteil
samt Dachgiebel brannte aus noch immer ungeklärten Gründen
1995 ab.) Laborde kannte auch technische Rückschläge: sein
1850 begonnenes Projekt, eine Wasserleitung von Ambohimalaza (15
östlich von Antananarivo) bis hoch zur rova zu ziehen,
scheiterte nach vier Jahren Arbeit kläglich.
De
Lastelle und Laborde wurden madagassische Bürger. Sie waren
Ratgeber der Königin und Troubleshooter in Notlagen,
nutzten ihre Position aber auch zur Anhäufung von beträchtlichem
Kapital aus. Als De Lastelle 1856 starb, hinterliess er nebst
einem umfangreichen Besitz auch 6000 Sklaven.
Weil
Jean Laborde in einen - fehlgeschlagenen - Komplott gegen die Königin
verstrickt war, musste auch er, wie die anderen anwesenden Europäer
(darunter Ida Pfeiffer), 1857 eiligst das Land verlassen. Kaum
war er weg, wurden die Anlagen in Mantasoa von den Arbeitern grösstenteils
zerstört.
Im
Verlaufe der Herrschaft der Königin Ranavalona I begannen
die hova-Händler und Armeechefs den Handel zu
monopolisieren. Importierte Güter wurden horrend teuer. Auf
Gewehre und Pulver beanspruchte die Regierung - und somit die
Machtelite um Königin und Premierminister - ein Monopol. Um
die Schlagkraft der Armee zu stärken, durften ab 1832 Reis
und Fleisch im Aussenhandel nur noch gegen Gewehre und Pulver
getauscht werden.
Den
militärischen Belangen ihres Reiches widmete Ranavalona
weniger Zeit, betrachtete aber das Erlangen einer Einheit auf
Madagaskar - unter Dominanz der Merina - als eines der
Hauptziele.
Die
Armee unternahm mehrere Feldzüge, vor allem in den Süden (1835
bis Ihosy, Ivohibe und Vohimarina; 1835/36 bis Tulear). Der
Feldzug nach Tulear unter dem Kommando von Rainiharo mit
15’000 Mann und unzähligen Offizieren und Ordonnanzen
wurde zum Fehlschlag. Ziel war die Unterwerfung der Sakalava und
die Inbesitznahme der Insel Nosy Ve in der Bucht von
Saint-Augustin, dem beliebten Anlaufpunkt von französischen
und britischen Schiffen, ebenso wie amerikanischen Walfängern.
Die Merina-Truppen verfügten über keine Marine und blickten
machtlos auf die Insel hinüber. Zudem wurden die Sakalava sogar
von den Europäern und Amerikanern vor den Merina-Angriffen
geschützt. (Die madagassische Delegation nach England von
1836/37 hatte auch den Auftrag, ein Schiff für Madagaskar zu
kaufen.) Auch das Eingreifen des treuen Laborde, der auf dem
Seeweg mit einem Schiff von De Lastelle zu Hilfe eilte und ein
paar Sakalava-Führer durch falsche Versprechungen an Bord
lockte und kidnappte, nützte nichts. Die Franzosen trieben
weiterhin ungestört Handel aller Art, auch Sklavenhandel,
vor allem im Süden, während die Engländer eher im
Nordwesten aktiv waren.
Interessant
in diesem Zusammenhang ist die Rolle von Jean Laborde: suchte er
sich bei Hof und Heer beliebt zu machen, weil sein Vertrag 1835
auslief wie jener seines Partners Droit und der britischen
Missionare? Laborde war jedenfalls dabei, als die Königin
den Missionaren im Februar 1835 die neue Politik erklärt
hatte. Droit unterstützt sie lauthals in ihrem antichristlichen
Kurs. Laborde blieb bei dieser Sitzung still: plante er bereits
eine Strategie, die ihn unersetzlich für die Krone machte? War
er sogar der Drahtzieher für die Ausweisung seines Kompagnon
Droit, der doch, wie die Königin forderte, 'nützliche
Sachen' herstellte. Droit wurde letztendlich in der Folge einer
äusserst dubiosen Affäre um das Schiff 'Voltigeur'
richtiggehend aus Imerina gejagt. Nach dem Weggang von Cameron
und Droit war Laborde jedenfalls der einzige technisch versierte
Baumeister, Erfinder und Konstrukteur des Königreiches.
Diese
Fragen lässt der madagassische Historiker Raombana in
seinem Tagebuch durchblicken und sind umso ernster zu nehmen,
als Raombana, der Staatssekretär der Königin
Ranavalona I, aufgrund seiner Stellung jederzeit gut informiert
und immerhin ein Freund des nur vier Jahre älteren Laborde
war.
Betsileoland
revoltierte erneut, 1836 wurde eine Armee hingeschickt. Auch
nach Boina schickte Ranavalona 1836/37 ihre Soldaten. Die lokale
Sakalava-Königin floh auf Nosy Komba und schickte 1838 -
mit englischen Booten - ein Hilfegesuch an den Sultan von Oman,
dessen Hauptstadt sich in Zansibar befand. Sie unterstellte gar
- als Protektion gegen die französischen Schiffe und gegen
die Merina - ihr Territorium dem Sultan, der sich allerdings
nicht sonderlich interessiert zeigte.
Mit
dem Sultan von Zansibar wollte auch Ranavalona I bereits 1836
ins Geschäft kommen: sie schlug vor, 2000 - christliche -
Soldaten gegen 400 Gewehre zu liefern. Der Sultan plante, die
madagassischen Soldaten im Kampf gegen Mombasa einzusetzen, die
Königin wollte die Gewehre nutzen, um die Franzosen aus Ste.
Marie zu vertreiben. Das Geschäft scheiterte, weil die Dhow
mit den Gewehren vor den Komoren Schiffbruch erlitt.
Die
Sakalava-Königin, ihrerseits vom Sultan im Stich gelassen,
rief nun die französischen Schiffe zu Hilfe und übergab
ihnen 1840 Nosy Be und die umliegenden Inseln. Tausende von
Sakalava flohen auf Nosy Be, um der Merina-Kontrolle zu
entgehen. Unter französischer Dominanz befanden sich somit
Nosy Be, Nosy Ve (bei Tulear), Ste. Marie und Mayotte (Komoren).
Auf Nosy Be entstand der Ort Hellville, benannt nach Admiral
Hell, dem damaligen Gouverneur von Bourbon (La Réunion). Französische
und kreolische Siedler aus La Réunion - arme Weisse, petit
blancs genannt - liessen sich auf dieser fruchtbaren Insel
nieder. Auch katholische und calvinistische Missionare hielten
Einzug und verstrickten sich untereinander bald in Rivalitäten.
Die Franzosen unterstützten aktiv die Separationsbestrebungen
der Sakalava gegenüber den Merina.
1852
führten die Merina erneut einen Feldzug gegen den Südosten,
geleitet von Raharo, der noch im gleichen Jahr nach dem Tod
seines Vaters Rainiharo Premierminister wurde.
(Rainiharo,
der favorisierte Liebhaber der Königin, wurde in einem
wuchtigen Steinmausoleum (fasan-d'Rainiharo) in Isotry begraben,
ein Werk des Franzosen Jean Laborde.)
Trotz
dieser Feldzüge gelang es der Königin nicht, die von
Radama I eroberten Gebiete unter wirkliche Kontrolle zu bringen
oder gar ihre Herrschaft weiter auszubreiten. Es wird geschätzt,
dass allein die etlichen Feldzüge von 1828 bis 1840 das Leben
von 100’000 Männern kosteten, während 200’000
Menschen versklavt wurden.
Mit
ihrer Aussenpolitik hatte die Königin wenig Glück. Sie
musste zweimal militärische Vergeltungsschläge (1829
und 1845) hinnehmen und geriet immer mehr in internationale
Isolierung, die sie trotz der Entsendung von diplomatischen
Missionen nicht durchbrechen konnte.
Das
Interesse der damaligen Grossmächte Grossbritannien und
Frankreich bestand darin, ihre Inseln Mauritius (GB) und Bourbon
(La Réunion; F) mit Nahrungsmitteln aus Madagaskar zu
versorgen. In den beiden Kolonialinseln war die Produktion
einseitig auf Zuckerrohr ausgerichtet, wobei aber Bourbon
nachhaltiger von Einfuhren abhing als Mauritius. Zudem suchten
beide Inseln einen Absatzmarkt in Madagaskar, unter anderem auch
für Alkohol.
Die
Franzosen hatten im November 1821 die während kurzer Zeit
unter britischen Einfluss gefallene Insel Ste. Marie erneut
besetzt und suchten sich auch in der Region von
Foulpointe-Tintingue zu installieren. Feindseligkeiten mit
Frankreich folgten 1829. Als Vorwand diente die Verhaftung eines
Franzosen in Ste. Marie durch Merina-Soldaten und seinen Verkauf
als Sklave. Er wurde jedoch von seinen Landsleuten freigekauft.
Doch in Frankreich war ein Zuckerbaron aus Bourbon (Graf de Villèle)
Minister geworden und kannte somit die Interessen dieser Insel
und ihre Abhängigkeit von Nahrungslieferungen (und wohl
auch von Sklaven) aus Madagaskar. Unverzüglich setzte er die
französische Marine in Marsch.
Sechs
französische Schiffe bombardierten noch im gleichen Jahr
(1829) Foulpointe, Pointe à Larrée und besetzten mit ihren
senegalesischen Soldaten zeitweise die Hafenstadt Tamatave.
Schliesslich setzen sie sich in Pointe à Larrée fest. Der
französische Unterhändler Tourette wurde von der
aufgebrachten Merina-Königin nicht empfangen.
Diese
Feindseligkeiten von 1829 wurden von keinem Friedensvertrag
beendet.
So schickte der Premierminister Rainiharo eine fünfköpfige
Delegation nach Europa, die am 5. Juni 1836 in Antananarivo
startete und via Mauritius am 19. Februar 1837 in London
eintraf. Empfangen von Aussenminister Lord Palmerston, dem König
William IV und Königin Adelaide vorgestellt, wurde einzig
vereinbart, gegenseitige Konsulate einzurichten. Die britische
Forderung, die Verträge von 1817 und 1820 wieder
aufzunehmen, ebenso wie Handels-, Besitz- und Religionsfreiheit
zu garantieren, wurde von der madagassischen Delegation
abgelehnt, die in ihrem Anliegen (Respektierung der
madagassischen Souveränität und Protektion des
madagassischen Innenhandels) ebenfalls auf taube Ohren stiess.
Dasselbe geschah im März 1837 in Paris, die Franzosen
fassten den Besuch als reine Höflichkeitsvisite auf. Im
Oktober 1837 kamen die madagassischen Diplomaten auf dem Schiff
'Mathilde' wieder in Tamatave an, enttäuscht und ohne
Resultate.
International
blieb Madagaskar isoliert. Die britische Königin Victoria
(1837 - 1901) und der französische König
Louis-Philippe suchten vermehrt, ihre Einflusssphären in
einem gemeinsamen Einverständnis abzustecken. Dies minderte
die Rivalität dieser Grossmächte in Madagaskar und
verunmöglichte es, die Kolonialkonkurrenz weiterhin
gegeneinander auszuspielen.
1845
wurden die residenten Europäer in Tamatave den
madagassischen Gesetzen untergeordnet: ihnen drohten fortan
Fronarbeit, Giftprobe und Versklavung im Fall einer
Verschuldung. Das Land durfte nur mit Zustimmung der Königin
verlassen werden. (Zu jener Zeit wohnten bloss 12 Briten und 11
Franzosen in der Stadt.)
Schon
einen Monat nach dem Erlass des Dekrets kreuzten französische
und britische Schiffe vor Tamatave, um die Europäer zu
evakuieren. Die eingeleiteten Verhandlungen zogen sich dahin,
bis sich die Marine entschied, die Stadt in einer gemeinsamen
Aktion zu beschiessen. Die daraufhin in Marsch gesetzten
Landungstruppen konnten aber die Merina-Festung von Tamatave
nicht einnehmen. Es gelang ihnen auch nicht, die selbstgewählte
Isolation des Merinareiches zu brechen.
Die
Aussenbeziehungen des Merinareiches über den Hafen von Tamatave
wurden in der Folge während Jahren unterbrochen: La Réunion
und Mauritius erhielten keinen Reis und kein Fleisch mehr. Zudem
wurde der Versand von 'engagés' eingestellt. Das System der
engagés (Kontraktarbeiter) war aufgenommen worden, um das
Sklavenverbot zu umgehen. (Seit 1835
war die Haltung von Sklaven auf Mauritius verboten und ab 1848
auf La Réunion. Für
die Betroffenen engagés blieb dies wohl dasselbe. 1859 kam es
gar zu einer Revolte der madagassischen engagés auf La Réunion.)
Infolge
des Handelsboykotts im Hafen von Tamatave holten die Briten und
Franzosen fortan ihre Nahrungsmittel wieder vermehrt im - von
den Merina nicht kontrollierten - Süden und Südwesten der
Insel. Oder auch in der Capkolonie von Südafrika.
Die
Unzufriedenheit wuchs aber auch innerhalb der Merina-Händlerkreise
ob der Schliessung der lukrativen Importkanäle. Auch die
damals noch einflussreichen Franzosen Laborde und De Lastelle
wurden bei der Königin vorstellig.
Die
L.M.S.-Missionare Cameron und Ellis, als Vertreter der Händler
in Mauritius, führten 1853 Gespräche in Tamatave (nach
Antananarivo durften sie auf Order der Königin nicht
gehen), sie boten reichliche Kompensationszahlungen für die
erfolgten Bombardierungen und verlangten als Gegenleistung die
Wiederaufnahme des Handels. Man wurde einig: die Häfen
waren ab 1853 für den Handel wieder offen, auch für französische
Schiffe, obwohl La Réunion nichts bezahlt hatte. Die
Vereinbarung untersagte weiterhin den Export von Sklaven.
Sobald
Tamatave wieder für den Handel geöffnet war, strömten
Schiffe und Händler herbei. Darunter befand sich auch der
reiche französische Reeder Lambert, der wie Laborde, De
Lastelle und der amerikanische Händler Marks überzeugt
war, dass die despotische Königin baldmöglichst
abgesetzt werden müsse. Gemeinsam suchten sie Rakoto, den
unehelichen Sohn der Königin Ranavalona, von der
Notwendigkeit einer baldigen Palastrevolte zu überzeugen.
Rakoto bat daraufhin (1854) Napoléon III um eine militärische
Intervention, erhielt aber eine Absage. Lambert erneuerte diese
Bitte 1856 vor Napoléon, in London und im Vatikan. Doch
Frankreich und England, gerade mit dem Krimkrieg beschäftigt,
wollten sich nicht gegenseitig übervorteilen.
Trotz
des Ausbleibens ausländischer Hilfe planten Lambert, Rakoto,
der Befehlshaber der Armee, Laborde und zwei inkognito reisende
Jesuiten (Finaz und Webber) 1857 den Komplott gegen die Königin
und schritten zur Tat. Mit dabei war auch die österreichische
Reisende Ida Pfeiffer. Doch der Armeechef zögerte im
letzten Augenblick, wie schon bei einem ähnlichen Plan zwei
Jahre zuvor. Der Staatsstreich schlug fehl.
Die
wütende und enttäuschte Königin Ranavalona verfolgte
und strafte alle beteiligten Madagassen und wies sofort (17.
Juli 1857) sämtliche Europäer aus. Auch der von ihr
bis anhin geschätzte Laborde musste innerhalb Stundenfrist
gehen. Und erneut ging sie auf Christenjagd. Die Christen
erlebten noch im gleichen Jahr, wie schon 1837 und 1849 eine
weitere Welle der Verfolgung, auch diesmal wurden Christen
umgebracht.
Nur
eine Minorität profitierte von der Herrschaft der Königin:
ihre eigenen Verwandten und jene des Premierministers Rainiharo,
dann auch reiche hova und andriana, die als Militärkommandanten
den Handel kontrollierten. Sie bereicherten sich schamlos, während
das Volk unter Armut, Fronarbeit und Willkürherrschaft litt. So
durften per königlichem Dekret ab 1853 nur jene Rinder an
Europäer, das heisst in den Export, verkauft werden, die
einer kleinen Anzahl Privilegierter gehörten.
Die
von Spitzeln durchsetzte Armee, deren Kommandanten sich immer
ungehemmter bereicherten, verlor an Autorität. Die durch
Hunger und Krankheit dezimierten Merina-Garnisonen in den
Provinzen wurden immer häufiger angegriffen. Dagegen
reagierte die Zentralmacht mit Razzien, Repression und
Strafexpeditionen, ohne jedoch das Land zu beruhigen.
Banditismus nahm zu, auch in der Hauptstadt. Im Süden wanderten
Teile des Volkes der Antanosy um 1845 300 Kilometer nach
Nordwesten ins mittlere Onilahy-Tal aus, um dem Einfluss der
Merina-Festung in Fort-Dauphin zu entgehen. Aus denselben Gründen
zogen sich die Antaisaka in die Wälder der Südostküste
zurück. An der Randzone des Merinareiches bildeten sich
richtige Republiken aus entlaufenen Sklaven und geflohenen
Zwangsarbeitern. Im Nordwesten Madagaskars baten mehrere
Sakalava-Führer Frankreich um Beistand gegen die zunehmende
Merina-Dominanz.
Am
16. August 1861 starb die betagte, 75-jährige Königin
Ranavalona I. nach 33 Jahren Herrschaft. Sie wurde, wie
Andrianampoinimerina und Radama I, auf dem Königshügel in
Ambohimanga beigesetzt.
Ihr
Nachfolger und Sohn, der 32-jährige Rakoto, bestieg als
Radama II den Thron. Radama war mit europäischen Ideen
vertraut und hatte wiederholt - wenn auch nicht offen - für die
Christen Partei ergriffen. Um ihn scharten sich Raharo und
Ralaiarivony (Söhne des 1852 verstorbenen Ministers
Rainiharo), Raombana (der Hauslehrer von Radama, ein in England
ausgebildeter Historiker). Radama war ein europafreundlicher Träumer,
der weder das Organisationstalent von Andrianampoinimerina, noch
die kriegerische Ader von Radama I und auch nicht das
Durchsetzungsvermögen seiner Mutter Ranavalona hatte. Er fühlte
sich eher den musischen Künsten zugezogen und liess sogleich
eine Nationalhymne schaffen.
Seine
Landsleute brüskierte er mit seinem offensiven Modernismus, der
die althergebrachten Traditionen ablehnte oder einfach überging.
Er respektierte die sampy nicht und machte keine fandroana (königliches
Bad). Radama proklamierte die Freiheit des Denkens und der
Religion und erliess eine Generalamnestie für alle inhaftierten
Christen. Er schaffte die Giftprobe und die Todesstrafe ab.
Gleichzeitig
leitete er auch die totale Öffnung des Landes ein. Sämtliche
Zollgebühren wurden abgeschafft. Der Umschwung kam schnell und
gründlich. Sogleich strömten die Missionare wieder ins
Land. Die französischen Jesuiten (Webber, Finaz) waren die
ersten. Auch Laborde kehrte - als Konsul Frankreichs - zurück.
Nach fast zwanzig Jahren Absenz kamen auch die englischen
Missionare wieder, gefolgt von europäischen Händlern,
darunter der zwielichtige französische Geschäftemacher
Lambert, dessen schon 1855 ausgehandelte Charte von Radama
erneuert wurde und Lambert den Zugang zu allen Bergbauprodukten
und zu grossen Landkonzessionen gab - steuerfrei. Lambert wurde
1862 von Radama gar zum offiziellen madagassischen Botschafter
ernannt.
Eine
englische Delegation, unterstützt von einem Handelsattaché aus
Mauritius, besuchte noch 1861 Madagaskar. Auch Frankreich sandte
1862 eine Abordnung mit der Botschaft, dass Napoléon III am
Handel mit Madagaskar interessiert sei. Die Nachricht, dass
Napoléon Radama II als König von Madagaskar anerkenne,
brachten die Franzosen nicht.
1862
schaffte es auch der inzwischen 62-jährige William Ellis
von der London Missionary Society bis nach Antananarivo. (Er war
1856 doch
noch von der betagten Königin in Ehren und Freundschaft
empfangen worden und hatte erstmals mit eigenen Augen Land und
Leute gesehen, die er schon Jahre vorher in seinen Büchern
kenntnisreich beschrieben hatte.)
Sehr
bald entstanden Konflikte und Rivalitäten zwischen
Franzosen und Briten, zwischen Katholiken und Protestanten. Die
Protestanten konnten auf noch bestehende Glaubensgemeinden zurückgreifen
und auf früher gebaute Kirchen, die Katholiken begannen
fieberhaft, eigene Gotteshäuser zu bauen. 1867 hatten die
Missionen bereits 150 Kirchen erbaut.
Radama
II sah sich bald gefangen zwischen den Malsteinen der europäischen
Rivalitäten. Er suchte auszugleichen, indem er einen
englischen Arzt konsultierte, seine Frau einen französischen,
indem er einen katholischen Priester als Geistlichen des
Palastes ernannte, aber einen Protestanten als Palastkaplan,
indem er an Weihnachten die Messen beider Konfessionen besuchte.
Radama
regierte nicht mehr als Alleinherrscher wie seine Vorgänger,
sondern setzte eine Regierung ein, ernannte Minister und liess
sich von ihnen zum König - in der Uniform eines englischen
Marschalls - krönen. Dieser Festakt (1862) zog weitere
Handelsdelegationen an, wobei die Franzosen einen für sie günstigen
Vertrag unterzeichneten. Den Engländern gestand Radama Ende
1862 einen ähnlichen Vertrag zu.
In
den folgenden Monaten begannen sich die Europäer um
Landkonzessionen zu reissen: Lambert liess sich in Diégo-Suarez
nieder, andere in Vohémar, Maroantsetra.
Der
junge König schaffte die Fronarbeit ab und entzog somit dem
Staat Arbeitsressourcen. Aus politischen Gründen liess er die
Sklavenhaltung bestehen. In Imerina waren zu jener Zeit rund
dreiviertel der Bewohner Sklaven, einige hova besassen bis zu
1000 Sklaven. Seinen Wunsch, die 30’000 Mann starke Armee zu
reduzieren oder abzuschaffen, konnte er ebenfalls nicht
durchsetzen.
Der
reformfreudige Radama II sah sich bald einem erheblichen Druck
von Seiten der Traditionalisten ausgesetzt und suchte vermehrt
Unterstützung bei seinen Jugendfreunden, den menamaso (die Männer
mit den roten Augen oder aber von mentra maso einem Wortspiel
mit den Bedeutungen: jene, die Angst vor Blicken haben und jene,
die menschliche Würde beweisen). Den menamaso vertraute er
blind und liess sich immer häufiger von ihnen vertreten.
Dadurch gewannen sie an Einfluss und nutzten ihre Position und
ihre Macht schamlos aus. Zudem kamen sie aus Merina-Süd, was
dem Eid an Andrianampoinimerina widersprach: 'Die Merina des
Nordens regieren, die Atsimo (südlichen) respektieren die
Befehle.'
Zuviel
Niederschläge während der Regenzeit von 1862/63
bewirkten eine schlechte Ernte, dies verursachte einen
richtiggehenden Volksaufstand. Die protestierende Landbevölkerung
führte die Naturereignisse auf die Nichtrespektierung der
Tradition zurück. Sie glaubte und hoffte fest an eine baldige Rückkehr
der Königin Ranavalona I mit ihrer antieuropäischen
und antichristlichen Politik. Eine Art Cargokult machte sich
breit mit Massentanz, Hysterie und Weltuntergangsstimmung, sowie
dies auch in anderen Weltregionen bei einem plötzlichen
Kontakt zwischen traditionellen Kulturen und europäischen
Einflüssen geschah.
Anarchische
Zustände begannen sich unter der unzufriedenen und
hungernden Bevölkerung auszubreiten. Im März 1863
brach ein richtiger Bürgerkrieg zwischen den menamaso und dem
Premierminister Raharo aus. Während des bis Mai dauernden
Konfliktes wurden etliche Mitglieder der menamaso umgebracht,
viele konnten jedoch entkommen. Es war wohl der Premierminister,
der in Einvernehmen mit der Oligarchie die Ermordung Radama
veranlasste, um damit den Einfluss der Europäer zu dämmen.
Nach keinen zwei Jahren Herrschaft wurde Radama in der Nacht vom
11. auf den 12. Mai 1863 mit einem Seidenlamba erwürgt, denn
kein königliches Blut durfte fliessen. Der glücklose
Radama II wurde in Ilafy begraben und nicht auf dem Königshügel
von Ambohimanga.
Rabodo,
die erste Frau des verstorbenen Radama II und Nichte von
Ranavalona I, bestieg den Thron unter dem Namen Rasoherina. Sie
suchte ein diplomatisches Gleichgewicht zwischen den
Traditionalisten und den Modernen zu erreichen. Die Giftprobe (tangena)
und die Todesstrafe wurden endgültig abgeschafft, die religiöse
Freiheit anerkannt.
Die
Königin übernahm ein schweres Erbe. Das Land war erst vor
zwei Jahren aus dunklen Zeiten erwacht, um sogleich unter der
Springflut des Modernismus begraben zu werden. Die Bevölkerung
war orientierungslos, die politische, soziale und militärische
Elite suchte ihren Anteil an Einfluss und Reichtum mit allen
Mitteln zu erhöhen. Zudem waren die europäischen Händler
und Missionare diesmal gekommen, um zu bleiben. Und auch sie
suchten ihre Nische an Einfluss und - die Händler
jedenfalls - an Reichtum. Die königliche Macht war abgebröckelt.
In Wahrheit leitete (seit 1852) der Premierminister Raharo die
Geschäfte - als zunehmender Despot. Das Gerücht, Radama II
lebe noch, hielt sich hartnäckig, auch die Europäer
und insbesonders Laborde glaubten daran. Raharo, womöglich
der Initiator des Königsmordes, verfolgte immer aggressiver
jene, die diese Gerüchte ausstreuten oder daran glaubten.
Sezessionsbestrebungen in den Provinzen begannen sich zu regen.
Wohl
eher aus politischem Kalkül heiratete der Premierminister 1863
die Königin, die somit seine zweite Frau wurde. Damit
hatten die hova eine weitere Etappe in die Integration in die
andriana-Monarchenfamilie gemacht.
Ein
Jahr später (1864) übernahm sein Bruder und Rivale
Rainilaiarivony in einer Palastrevolte mit Unterstützung von Königin
Rasoherina und von einflussreichen Leuten, die Lenkung des
Staates und hielt sie bis zum Einmarsch der Franzosen 1895 bei.
Er übte auch weiterhin sein Amt als Chefkommandant der Armee
aus.
Die
Königin Rasoherina starb schon 1868.
Die Wahl der Nachfolgerin bestimmte bereits der mächtige
Premierminister Rainilaiarivony. Die 39-jährige Königin
bestieg 1868 als Ranavalona II den Thron und herrschte bis zu
ihrem Tod 1883 15 Jahre lang. Doch die Macht lag in den Händen
des einflussreichen Premierministers, die Monarchie hatte nur
noch eine Alibifunktion. Die Entscheide der Königin waren
in Wirklichkeit jene des Premierministers, des inzwischen 40-jährigen
Rainilaiarivony, der die Königin Ranavalona II auch
heiratete, ebenso wie 1883 ihre 22-jährige Nachfolgerin
Ranavalona III.
Rainilaiarivony
war Sekretär der Königin Ranavalona I gewesen, hatte
Feldzüge geleitet, er galt als tüchtiger, arbeitsamer,
belesener Verwalter mit grosser Erfahrung. Er war fähig,
ambitiös und autoritär, immer gut informiert und
vorsichtig gegenüber Komplotten. Er kam nie aus Imerina heraus,
Europa kannte er nur aus Büchern. Mit ihm wurde das Amt des
Premierministers endgültig wichtiger als jenes der Königin.
Er glaubte an die Notwendigkeit einer Modernisierung des
Staates, doch als Zentralist dachte er kaum ans Wohl von ganz
Madagaskar. Im Laufe seiner langen Herrschaft (von 1864 bis
1895) betrachtete er Imerina als Zentrum des Landes, die
eroberten Gebiete waren für ihn nur von sekundärer
Bedeutung. Damit reihte auch er sich in die Tradition der
Merina-Monarchen ein, die in den eroberten Gebieten kaum mehr
als Zulieferer von 'Produkten' (Sklaven, Nahrungsmittel,
Steuern) für Imerina mit der Metropole Antananarivo sahen.
Diese Produkte wurden von den noblen Familien und den Militärs
ausgebeutet, aber nicht in eine ökonomische Entwicklung des
Landes reinvestiert.
Er
unternahm auch keine neuen Eroberungsversuche. So blieben der Süden,
der Menabe und Ambongo ausserhalb des Einflussbereiches der
Merina. Das Königreich Madagaskar umfasste vielleicht
Zweidrittel der Insel, und auch diese Gebiete waren nicht überall
wirklich unter Kontrolle.
Aus
Imerina stammten die wesentlichen Ressourcen des Staates, dort
wurden die Verwalter und das Militär rekrutiert, dort
leisteten die Leute die Fronarbeiten für den Staat. Die
eroberten Gebiete (tanindrana) wurden mehr oder weniger stark
von der Armee kontrolliert. Die Gouverneure und Garnisonen übten
nur eine beschränkte Kontrolle über ihr Territorium aus,
die Vasallen waren mehr oder weniger loyal. Die stationierten
Militärs blieben eine reine Okkupationsmacht, die sich vom
Land ernährte und die Bewohner ausbeutete. Desertationen in
den Garnisonen waren häufig. Den Soldaten waren die Händler
gefolgt. Der Militärposten Fianarantsoa beispielsweise,
gegründet 1831 während eines Kriegszuges, entwickelte sich
zu einer Stadt, in seiner Anlage Antananarivo imitierend. Die
Orte, die sich um die Garnisonen entwickelten, wurden Herde der
Moderne, der Verwestlichung, denen sich das umliegende Land aber
verschloss. Für die rurale Bevölkerung blieb die Stadt das
Zeichen des fanjakana, des Staates, den sie flohen, um keinen
Frondienst oder Militärdienst leisten zu müssen.
(Ab
1879 galt in Imerina eine generelle Militärdienstpflicht für
alle Männer von 18 bis 25 Jahren.) Die reichen Merina
jedoch entzogen sich dieser Order, indem sie die
Aushebungsoffiziere bestachen oder Sklaven an ihrer Stelle
schickten.
Der
Staat bezahlte keine Löhne, seine Finanzen stammten grösstenteils
aus den Einkünften der Importsteuern. Steuern, Bussen und 'hasina'
(Abgaben an die Königin) brachten nicht viel ein.
1869
wurde der Suezkanal eröffnet, einerseits kam damit
Madagaskar ausserhalb der grossen Linie England - Indien,
andererseits verkürzte sich die Überfahrt von Europa nach
Madagaskar auf einen Monat, dies auch dank dem vermehrten
Einsatz der Dampfschiffe.
An
den Küsten etablierten sich wieder vermehrt kreolische Colons
aus Bourbon, die Kaffee, Nelken, Zuckerrohr und Vanille
anpflanzten. Doch sie durften das Land nicht kaufen.
In
Imerina bildete sich eine einflussreiche hova-Bourgeosie, die
sich die einträglichen Militärkommandos sicherte.
Damit hatte sie das Recht zu Requisitionen und konnte sich somit
ungehindert bereichern. (Die Dienstgrade waren inzwischen auf 15
erhöht worden.) Diese Schicht lebte nach europäischen
Normen, schickte ihre Kinder gar zu Studien nach Europa. Sie
besassen hunderte von Sklaven, die ganz reichen sogar tausende.
Doch
es gab auch arme hova (Freie), die Steuern zahlen und Fronarbeit
leisten mussten. Die Lebensbedingungen der armen hova waren so
schlecht, dass die zur Fronarbeit nicht verpflichteten Sklaven zögerten,
sich freizukaufen, wenn ihnen dazu die Gelegenheit geboten
wurde. Um diesem miserablen Leben zu entgehen, flohen viele
freie Männer in die Berge und Randzonen des Reiches und
wurden Banditen (fahavalo).
Die
Klasse mit dem grössten Ansehen, die andriana (Noble),
lebte im Durchschnitt weder besser noch schlechter als die bürgerlichen
hova. Den andriana wurde jedoch aufgrund ihrer Ahnen und den
Familientraditionen mehr Achtung entgegengebracht und einige
Bevorzugungen zugestanden. Doch es gab auch arme andriana, wie
ein Spruch jener Zeit sagte: arm wie ein andriana.
Der
Premierminister heiratete die protestantisch erzogene Königin
Ranavalona II noch im Jahr der Thronbesteigung 1868. Beide
liessen sich 1869 konfirmieren und setzten so ein Zeichen. Die
Oberklasse folgte dem Beispiel: der Protestantismus wurde zu
einer Art Staatsreligion, der Merina-Staat zu einer Art
Theokratie. Doch auch unter dem Volk fand dieser Akt Nachahmer,
denn angesichts dieses Schrittes der Monarchin weiterhin dem
christlichen Glauben fernzubleiben, wurde von vielen Leuten als
ein Verstoss gegen den Staat, ja gar als Provokation, empfunden.
1869
durfte mit königlicher Genehmigung eine protestantische
Kirche innerhalb der rova in Antananarivo erbaut werden, ein
Unternehmen, das noch keine zehn Jahre vorher unter Königin
Ranavalona I undenkbar gewesen wäre. Im gleichen Jahr
wurden die königlichen Talismane aufgrund eines Erlasses
verbrannt, dem Volk wurde nur noch das Aufbewahren der persönlichen
Amulette erlaubt. (Damit hatte die Monarchie einen wesentlichen
Pfeiler ihrer bisherigen Macht aufgegeben, denn bislang stützte
sich ihre gottähnliche Autorität auf die Kontrolle der
religiösen Riten und deren Manifestation in Form der sampy.)
Die
Offiziere, die als Provinzchefs (manambonimahitra) amteten und
keinen Lohn bezogen, sondern nach eigenem Ermessen Steuern und
Arbeitsdienst fordern durften und sich dadurch schamlos
bereicherten und zudem aktiv im Handel tätig waren,
erhielten vom Königshof eine zusätzliche Aufgabe: sie
sollten noch als Evangelisten tätig werden. Dadurch wurde
Verwaltung und Kirche quasi eins. Das Volk in den eroberten
Provinzen interpretierte dies etwa nach folgender Formel:
Merina-Unterdrückung gleich Protestantismus.
Der
Premierminister Rainilaiarivony zog die Engländer den
Franzosen vor. So half der englische Colonel Willoughby ab 1883,
die Merina-Armee zu reorganisieren.
Der
Katholizismus entwickelte sich zu einer Angelegenheit des ärmeren
Bevölkerungsteils. Fianarantsoa wurde zu einer Hochburg der
katholischen Mission. Seit 1861, unmittelbar nach dem Tod von Königin
Ranavalona I, wirkte die katholische Mission in Madagaskar, 1866
kamen norwegische Missionare und später noch weitere
Bekenntnisse. Eine Medizinschule wurde unter kirchlicher Leitung
gegründet. 1864 wurde ein Spital in Analakely eröffnet.
Ein
Gegengewicht zum dominierenden Protestantismus in den höheren
Kreisen der Merina-Gesellschaft bildete die Nichte des
Premierministers: Victoire Rasoamanarivo blieb katholisch. (Sie
wurde 1989 anlässlich des Papstbesuches in Madagaskar selig
gesprochen.)
Doch
mit dem Vorbild der Königin Ranavalona II befand sich die
L.M.S. eindeutig im Aufwind: 1895 fanden sich 289’000
L.M.S.-Protestanten gegenüber 235’000 Christen anderer
Bekenntnisse.
1876
wurde eine generelle Schulpflicht verordnet, nur sechs Jahre
nach dem gleichen Entscheid in Grossbritannien. Mangels Schulen
und Lehrern blieb diese Initiative allerdings fiktiv. Der
Unterricht wurde nach wie vor von den Kirchen organisiert. Die
Missionsstationen befanden sich vor allem in Imerina, und die
Schulen waren noch stark auf die Hauptstadt konzentriert.
1874
wurden aufgrund eines Dekrets der Königin die seit 1865 aus
Mozambique nach Madagaskar (pro Jahr etwa 8000 Leute)
importierten Sklaven frei, das Dekret trat aber erst 1877 in
Kraft.
(Ein
generelles Verbot der Sklavenhaltung wurde erst 1896 nach der
französischen Invasion erlassen.)
Der
Premierminister versuchte auch die Staatsorganisation zu
reformieren: er bildete 1881 eine konstitutionelle Monarchie mit
einer Regierung aus acht Ministerien, bestrafte
schuldhafte Funktionäre, schaffte die Sippenhaft ab. Unter
den alten Militärs ernannte er die sakaizambohitra (Freunde
der Dörfer), die den Premierminister in den Dörfern
als eine Art Bürgermeister vertreten sollten in Sachen
Kontrolle und Administration. 1884 übertrug der Premierminister
in Imerina wesentliche Elemente der Verwaltung und der öffentlichen
Ordnung, einschliesslich der Polizeigewalt, den fokonolona
(Dorfgemeinschaften). Zudem erliess er den 'code des 305
articles', die erste geschriebene gesetzliche Grundlage des
Merinastaates.
Alle
seine Bemühungen und Reformen (Abschaffung der Giftprobe und
der Polygamie) blieben aber immer auf ihn selbst zentriert,
somit langwierig und auf Dauer nicht haltbar. Wie eine Spinne
hielt er alle Fäden der politisch-administrativen
Verwaltung und des Militärs in den Händen.
Rainilaiarivony,
Chef der Funktionäre, oberster Militärchef, Direktor
der Königsberater und Ehemann der drei letzten Königinnen,
schaffte es nicht, das Reich allein zu verwalten. Der Diktator
Rainilaiarivony, Mitglied der hova-Familie der Andafiavaratra,
wurde aber auch von den andriana in allen Bereichen boykottiert.
In
den letzten zehn Jahren seiner Herrschaft wurde Rainilaiarivony
immer despotischer und verunmöglichte die Besetzung von
Staatsstellen durch junge, fähige Kader. Obwohl die Königin
Ranavalona III als Monarchin weithin und insbesonders in Imerina
anerkannt war, wurde die Regierung und ihre Vertreter von einer
breiten Volksmasse als korrupt und repressiv gewertet.
Aussenpolitisch
legte er sich - wie schon Ranavalona I - mit Frankreich an. Das
Erbe von Jean Laborde, der 1878 in Antananarivo starb, bildete
den Anlass zu einem erneuten Streit mit Frankreich. Dazu kam,
dass Rainilaiarivony die Gültigkeit der zu einem französischen
Protektorat erklärten Region von Sambirano anfocht. Ebenso
entscheidend war, dass ein Abgeordneter der Insel La Réunion
(François de Mahy) Marineminister geworden war und sich damit
am Schalthebel für militärische Aktionen befand. (La Réunion
suchte nach wie vor eine stabile Dominanz über Madagaskar zu
erreichen.)
Eine
madagassische Delegation fuhr nach Paris, konnte aber den Streit
nicht schlichten. 1882 erfuhr die madagassische Abordnung in
London, dass England im Fall eines französisch-madagassischen
Konflikts nicht für Madagaskar intervenieren würde. (England
hatte seine Basen in Mauritius und Ostafrika fest im Griff und
hatte das Interesse an Madagaskar verloren.)
Die
Botschafter reisten weiter in die USA, dann nach Deutschland,
doch keine Macht wollte als Vermittler oder gar Protektor
auftreten.
1883
attackierten die Franzosen ein paar Häfen in der Gegend von
Mahajanga, dann auch die Stadt Mahajanga. Die Sakalava fassten
dies als Unterstützung gegen die Merina auf und waren
begeistert, dies bedeutete jedoch nicht, dass sie sich den
Franzosen unterordnen wollten.
Mit
Zustimmung der Königin wies der Premierminister die
Franzosen - Händler und Missionare - aus. Einen Monat später
beschossen französische Kriegsschiffe einzelne Häfen
an der Ostküste und verschonten auch Tamatave nicht. Doch dem
Merina-Kommandanten Rainandriamampandry und dem südafrikanisch-englischen
Militärberater Willoughby gelang es, den Vormarsch der
französischen Landungstruppen zurückzuschlagen, die sich
in Tamatave verschanzten, unterstützt von einer Seeblockade.
Der Abnützungskrieg mit gelegentlichen Bombardements ging 1884
und 1885 weiter.
Zur
gleichen Zeit (1883) starb die Königin Ranavalona II. Der
Premierminister Rainilaiarivony wählte und heiratete die
22-jährige Prinzessenwitwe Razafy, die als Ranavalona III
den Thron bestieg.
Aus
Angst vor einer Volksrevolte musste sich der Premierminister
1885 doch noch mit den Franzosen arrangieren. Madagaskar wurde
in gewisser Weise ein französisches Protektorat. In einem
Abkommen anerkannte Frankreich die Souveränität der Königin
über ganz Madagaskar. Doch die Aussenpolitik Madagaskars sollte
fortan von Frankreich wahrgenommen werden. Dieser Punkt beruhte
jedoch auf einer Unklarheit im Vertragstext, der in
madagassischer und französischer Fassung vorlag, und führte
dann prompt zu diplomatischen Schwierigkeiten. In diesem
Abkommen erhielt Frankreich zudem das Recht, einen Vertreter in
Antananarivo mit 50 französischen Soldaten zu stationieren
und sich in Diégo-Suarez zu installieren, wo sich schliesslich
eine französische Garnison und ein Gouverneur festsetzte.
Madagaskar wurde gezwungen, einen Schadenersatz von 10 Millionen
Francs zu bezahlen. Die Franzosen hatten dabei das Recht,
Tamatave bis zur vollständigen Zahlung dieser Summe zu
besetzen und Zollgebühren zu kassieren.
Der
Premierminister suchte und fand britisches Kapital, um Tamatave
frei zu bekommen, doch der residente Vertreter Frankreichs, Le
Myre de Vilers, widersetzte sich diesem Vorhaben und vermittelte
ein französisches Darlehen von 15 Millionen Francs zu ungünstigeren
Konditionen. Doch der Premierminister hatte keine Wahl, er
akzeptierte die französische Offerte, somit ging die
Hafenstadt 1887 wieder in madagassische Hände über. Der
Schuldenberg lastete fortan schwer auf dem madagassischen Staat,
der in seiner Not immer wieder neue Sondersteuern vom Volk
verlangte. Damit wurde die ohnehin wacklige Imerina-Monarchie
noch weiter geschwächt. Madagaskar schlitterte dem ökonomischen
Ruin entgegen.
Die
verstärkte Präsenz Frankreichs führte dazu, dass
Madagaskar erneut ein starker Anziehungspunkt für Siedler und Händler
aus Frankreich und aus La Réunion wurde, rund 30
Landkonzessionen wurden zwischen 1885 und 1895 an Ausländer
vergeben. Seit Jahrzehnten hatten die Zuckerbarone von La Réunion
auf die Landreserven Madagaskars geschielt, um sie als Ventil für
die petits blancs von La Réunion, die einen schwelenden
sozialen Unruheherd bildeten, zu nutzen. Aber auch Amerikaner
kamen ins Land, Engländer und Deutsche (Die Firma Oswald
und die Deutsche Ostafrikanische Gesellschaft; 1883 war zwischen
Deutschland und Madagaskar ein Handelsvertrag unterzeichnet
worden). Plantagen
entstanden, Zucker- und Rumfabriken wurden gebaut.
Le
Myre de Vilers, der residente Vertreter Frankreichs in
Antananarivo, arbeitete energisch, um die Bande zwischen
Madagaskar und Frankreich zu festigen. Er schickte junge
Madagassen zu Studien nach Frankreich und holte französische
Techniker ins Land. Einer militärischen Aufrüstung
Madagaskars widersetzte er sich heftig.
Auch er baute seine Residenz: nebst der rova der Königin
auf dem höchsten Punkt der Stadt, dem fast gleich hohen
Palast des Premierministers und den etwas tiefer gelegenen
Kirchen entstand die französische Residenz auf halber Höhe
zwischen den Reisebenen und der rova.
1894
hielt Le Myre de Vilers die Zeit reif, um Madagaskar dem
'Mutterland' vollends einzuverleiben. Doch der Premierminister
widersetzte sich eisern dem französischen Vorschlag,
Madagaskar mit militärischer Okkupation in ein französisches
Protektorat zu verwandeln. Der Plan wurde ihm 1894 ultimativ von
Le Myre de Vilers vorgelegt. Demonstrativ reiste Le Myre de
Vilers am 27 Oktober 1894 ab und nahm die französische
Fahne mit.
Frankreich
wusste um seine freie Hand. 1884/85 hatte die Berliner
Kongo-Konferenz den afrikanischen Kontinent unter wenige europäische
Mächte aufgeteilt. Dieses Gentlemen's Agreement wurde 1890
durch den Zansibar-Vertrag erweitert: England trat Frankreich
seine Interessen an Madagaskar ab und sicherte sich dafür die
Inseln Zansibar und Pemba. Dieser Vereinbarung stimmte auch das
Kaiserreich Deutschland zu, das Helgoland erhielt.
Dieses
Mal begnügte sich Frankreich nicht mit dem Beschiessen von See
aus, sondern sandte 15’000 Mann unter dem Kommando von General
Duchesne. Die Kampfkraft des Merinareiches war von den Europäern
dramatisch überschätzt worden, wie sie auch die
Modernisierungsbemühungen des Premierministers letztlich fehl
eingeschätzt hatten. Beim Einmarsch der Franzosen stand das
Merinareich kurz vor dem Scheitern, ein Staatsstreich lag seit längerer
Zeit in der Luft.
Noch
im Dezember 1894 wurde Tamatave bombardiert. Die Flotte zog
allerdings weiter an die Nordwestküste. Am 14. Januar landeten
die Franzosen in Mahajanga. Die madagassische Armee war weder
vorbereitet noch kampffreudig. Zudem hatten nicht wenige der
Festungskommandanten Waffen und Ausrüstungen profitabel
verkauft. Einzig beim Hügelzug von Andriba, der sich 160
Kilometer nördlich von Antananarivo wie ein Riegel 900 m über
die Ebene erhebt, stellte sich die madagassische Armee einem
kurzen Gefecht, ohne jedoch den Franzosen ernsthaft Stirn bieten
zu können. Die grössten Gegner während des
Marsches blieben das unwegsame Gebiet und Krankheiten: sie
forderten mehr als 5000 Tote gegenüber 25 im Gefecht
Gefallenen. Um das mühsame Vorankommen mit den schweren
Transportwagen zu beschleunigen und die Hauptstadt noch vor der
Regenzeit einzunehmen, wurde ein Vorausdetachement von 4500 Mann
gebildet, das am Montag, dem 30. September
1895, den Königshügel von Antananarivo unter Beschuss
nahm. Eine halbe Stunde nach Beginn der Kanonenbeschiessung
liess die Königin die weisse Fahne hissen und
unterzeichnete am folgenden Tag den Kapitulationsvertrag.
Der
Premierminister wurde abgesetzt und im Februar 1896 ins Exil
nach Algerien geschickt, wo er nur fünf Monate später
starb.
Auch
die Königin Ranavalona III musste ein Jahr später ins
Exil nach Algerien, wo sie am 20. Mai 1917 als 71-jährige
starb. Ihr Leichnam wurde erst 1938 unter grossen Festlichkeiten
nach Antananarivo überführt und auf der rova beigesetzt.
Der
Einmarsch der Franzosen beendete die Dominanz der Merina-Könige
aus Ambohimanga, die rund hundert Jahren vorher zu Beginn des
19. Jahrhunderts aufgebrochen waren, um Merinaland und danach
(fast) ganz Madagaskar unter ihre Kontrolle zu bringen. Doch
auch den schwer bewaffneten Franzosen gelang es in den
verbleibenden Jahren des 19. Jahrhunderts nicht mehr, Madagaskar
unter ihre Herrschaft zu bringen. Auch ihre auf militärischer
Gewalt beruhende Macht scheiterte an den riesigen Dimensionen
des Landes und am Unabhängigkeitswillen der Bewohner. Erst
die brutale Durchsetzung von Macht, Zucht und Ordnung machte das
Land und seine rund drei Millionen Einwohner scheinbar gefügig.
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