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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Missionare im 19. Jahrhundert

Die Missionsbestrebungen der portugiesischen und französischen Katholiken hatten im 16. Jahrhundert keine bleibenden Früchte getragen, sodass die Insel im 18. Jahrhundert weitab vom Interesse der christlichen Kirchen lag. Erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts - mit der dosierten Öffnung des jungen Königreiches Imerina - wurden die Bemühungen wieder aufgenommen. Die englischen Protestanten hatten mit der britischen Besitznahme von Mauritius eine Plattform erhalten und ein Sprungbrett für die christliche Eroberung Madagaskars.

Zur Fackelträgerin des christlichen Glaubens entwickelte sich die 1795 gegründete London Missionary Society (L.M.S.). Am 18. August 1818 gingen die aus Wales stammenden L.M.S.-Missionare Thomas Bevan und David Jones mit ihren Familien in Tamatave an Land, geschickt von Farquhar und empfangen von Jean-René. In dieser aufstrebenden Hafenstadt und Drehscheibe des Sklavenhandels eröffneten sie kurz darauf eine Schule. Doch schon nach wenigen Wochen starben alle sechs Personen ausser David Jones, der sich daraufhin voll Trauer und Enttäuschung nach Mauritius zurückzog.

Im Oktober 1820 kehrte der wackere Missionar Jones wieder nach Madagaskar zurück und begab sich in Begleitung des britischen Abgesandten James Hastie nach Antananarivo. Schon ab dem 8. Dezember 1820 unterrichtete er am Königshof drei junge Prinze. Der Franzose Robin hatte bereits ein Jahr vorher eine Schule für die Königsfamilie und für Offiziere eingerichtet und hatte König Radama I in der Kunst des Schreibens mit lateinischen Buchstaben eingeweiht. (Radama hatte bislang die arabischen Zeichen der Antaimoro benutzt.)

1821 sandte die L.M.S. David Griffiths in die Hauptstadt des Königreiches Imerina und die beiden Missionare steckten ihre Tätigkeitsfelder ab: Jones unterrichtete am Royal Missionary College die Kinder der Königsfamilie und Adelige. Griffiths widmete sich in seiner Schule den Kindern des Volkes. Beide Schulen akzeptierten sowohl Jungs als auch Mädchen.

Schon nach sechs Monaten Schulzeit führten die unermüdlichen Lehrer die ersten Examen durch. Getestet wurden Lesen, Schreiben, Rechnen und - zusätzlich für die Mädchen - Nähen. König Radama I war mit den Ergebnissen zufrieden.

Zwei Jahre später (1824) fusionierten die Schulen zur Central School in Ambodinandohalo, die zu einer Art Lehrerseminar wurde. Etliche der dort ausgebildeten Schüler amtierten nach Abschluss der Studien als Lehrer in den neu errichteten Schulen, die allmählich in der unmittelbaren Umgebung von Antananarivo entstanden. Ein paar dieser madagassischen Lehrkräfte wurden später im Staatsdienst eingesetzt, zwei davon (Ralehimahaoly und Rasatranabo) begaben sich 1863 im Auftrag von Königin Rasoherina als Botschafter nach Europa.

Der Schulunterricht war nicht das einzige Betätigungsfeld der Missionare. Sie beschäftigten sich ebenso mit Sprachstudien (um die Bibel zu übersetzen und das Christentum in der einheimischen Sprache zu verbreiten), mit Religionsunterricht (ihrem eigentlichen Ziel) und mit Handwerksausbildung (Priorität des Königs).

1822 trafen die ersten Missionshandwerker der L.M.S. in Imerina ein. Ein Weberatelier mit Baumwollverarbeitung wurde von Rowlands in Fenoarivo eingerichtet, 1826 stiess Cummings dazu. Diese Textilverarbeitung hatte keinen Erfolg angesichts der billigeren Importe und wurde bald aufgegeben. Im Amparibe errichtete George Chick eine Eisenschmiede,  wobei er sich auf die traditionelle Schmiedekunst der Madagassen stützte. Diese Missionsschmiede kannte einen nachhaltigen Erfolg. John Canham widmete sich der Lederverarbeitung und fertigte Schuhe und Stiefel an, unterstützt ab 1827 von Kitching. (Bis anhin wurde die Haut eines geschlachteten Rindes ebenfalls verzehrt; das Tragen von Leder war tabu. In den folgenden Jahrzehnten gewann der Export an Leder - vor allem nach Amerika - eine grosse Bedeutung als 'Devisenbringer' für das Merina-Reich.) Der junge Zimmermann James Cameron gründete 1826 eine Schreinerei, erst in Ambatonakanga, dann in Analakely, wo er im Laufe seiner neunjährigen Tätigkeit hunderte von Lehrlingen ausbildete. Cameron war ein Universaltalent: er fabrizierte Seife und Kerzen, zeichnete Karten, stellte Keramikwaren her, führte den Gebrauch von Ziegelsteinen ein, bildete Steinmetze aus und tat sich vor allem auch im Bauen von Kirchen und Häusern hervor. Der allseits geschätzte Cameron wurde von den Madagassen Ingahy Kama (Monsieur Cameron) genannt.

Der äusserst beliebte David Jones wurde von den Madagassen jonja lava (langer Jones) genannt, im Unterschied zu seinem 1826 ins Land gekommenen Namensvetter David Johns, der mit dem Spitznamen jona fohy (kurzer Johns) gerufen wurde.

1826 kam Hovenden mit einer Druckerpresse nach Antananarivo, starb aber, bevor er sie in Betrieb setzen konnte. Cameron und Jones gelang es, die Apparate zu installieren und die erste Bibelseite (Genesis 1, 1-23) zu drucken. Die allererste auf dieser Maschine gedruckte Seite befindet sich heute in der Cap Town Library in Südafrika. Insgesamt wurden 1500 Exemplare gedruckt und in den Schulen als Lesestoff benutzt.

Radama hatte vom britischen Gouverneur in Mauritius Ausbildungshilfe in den 'europäischen Techniken' gewünscht. Die Missionare unterrichteten jedoch parallel zum Lesen, Schreiben, Englisch und Handwerk auch Glaubenslehre.

Und dazu gehörte natürlich ein Gotteshaus. Die erste Kirche wurde 1824 in Ambodinandohalo eingeweiht, das zweistöckige Holzhaus - das Wohnhaus von Griffiths - wurde auch als Schule benutzt. 1831 wurde die zweite Kirche, einem Wohnhaus ähnlich und ohne Kirchenturm, in Ambatonakanga eingeweiht. (Die Kirche von Ambatonakanga wurde 1835 unter der antichristlichen Königin Ranavalona I in einen Pferdestall verwandelt, dann in ein Gefängnis für die inhaftierten Christen, so unter anderem für Rasalama, der ersten Märtyrerin.)

Gedruckte Schriften, Pamphlete und Psalmen trugen wesentlich zur Verbreitung der christlichen Lehre bei. Edward Baker, der 1828 den verstorbenen Hovenden ersetzte, druckte 1830 das neue Testament in dreitausend Exemplaren und 1835 die erste Bibel auf madagassisch. (Als die Druckerpresse 1826 endlich in Antananarivo eintraf, war das Neue Testament bereits übersetzt, ebenso wie ein grosser Teil des alten Testaments.)

Radama trat selber nicht zum christlichen Glauben über, war aber den missionarischen Aktivitäten der Briten tolerant gesinnt, obwohl er nicht akzeptieren konnte, dass es eine höhere Macht als er selber geben könne. Zudem führte er privat einen exzessiven Lebensstil, der in diametralem Gegensatz zur christlichen Lehre stand. Der britische Militärberater James Hastie trug zu einem positiven Verhältnis zwischen dem lebensfreudigen Radama und den sittenstrengen Missionaren bei. Als Hastie 1826 im Alter von 40 Jahren starb, waren die Missionare keineswegs sicher, ob ihre Tätigkeit ohne diesen ausgleichenden Landsmann weiterhin ungestört bleiben würde. (Hastie war nur wenig älter als Radama und beide verband eine tiefe Freundschaft, die auch auf ihrer Verehrung für Militär und Krieg beruhte.) Andererseits hatte Radama der L.M.S. praktisch das Monopol für die Missionierung seines Reiches übergeben, da er wünschte, dass die Europäer die gleichen Lehren verbreiteten. Daher lehnte er auch ein Missionsgesuch der Katholiken ab.

Der junge König Radama I starb 1828 unerwartet. Zu der Zeit existierten 44 Schulen mit total 2300 Schülern, 5000 Schüler hatten bereits lesen und schreiben gelernt. Die L.M.S.-Missionsstation in Antananarivo bestand aus 4 Priestern und 3 Handwerkern.

Die freundliche Tolerierung der verschiedenen Tätigkeiten der Missionare änderte sich nach Tod des Königs Radama zwar nicht schlagartig, aber schwankte unter seiner Nachfolgerin, Ranavalona I, erheblich und degradierte im Laufe der 33 Jahre dauernden Herrschaft der Königin zusehends.

Einflussfaktoren waren nicht allein ihre negative Haltung dem Christentum gegenüber, sondern ebenso die generelle aussenpolitische Lage. Der Konflikt mit Frankreich von Oktober 1829 machte die Königin auf die Abhängigkeit und die Gefahren von aussen aufmerksam. Sie bat die Missionare umgehend, 'brauchbare Sachen' herzustellen, beispielsweise Seife. Cameron und Chick setzten sich sofort ans Werk: Ende 1831 beschäftigten sie über 600 Arbeiter und hatten 20 Tonnen Seife produziert, der Import war überflüssig geworden. Auf Wunsch der Königin produzierten sie auch Salpeter, Schwefel und Schiesspulver in einer kleinen Fabrik am künstlich erstellten Lac Anosy.

Die französischen Attacken machten die Königin gegenüber den Engländern milder - auch weil sie inzwischen nützliche Produkte herstellten.

Im Mai 1831 proklamierte die Königin die Religionsfreiheit, sie erlaubte die christliche Heirat, Kommunion und Taufe und schickte gar ihren kaum zweijährigen Sohn Rakoto in den Missionskindergarten. Noch im gleichen Jahr allerdings zog sie diese Bewilligungen wieder zurück und legte den Christen in den folgenden Jahren zunehmend Schwierigkeiten in den Weg.

1832 folgte ein erneuter Rückschlag: alle männlichen Schüler über 13 Jahre wurden in den Militärdienst eingezogen. Es wurde den Missionaren verboten, Sklaven zu unterrichten. 1835 war die Gefahr einer französischen Invasion endlich vorbei: die Königin befahl, die Schulen wieder zu füllen: innerhalb von Wochen waren 100 Schulen mit 4000 Schülern in Betrieb - mehr als je zuvor.

Vielleicht sah die Analphabetin in den Schulen ein bequemes Reservoir für die schnelle Rekrutierung von Soldaten.

Im Februar 1835 informierte Ranavalona I alle Ausländer, dass sie ihnen weiterhin die freie Ausübung ihres Glaubens und ihres Lebensstils erlaube, doch den madagassischen Untertanen verbot sie, dem christlichen Glauben nachzueifern, sich taufen zu lassen und an sonntäglichen kirchlichen Versammlungen teilzunehmen. Sie gestattete den Missionaren zwar weiterhin, 'Technik' und 'Weisheit' zu vermitteln, nicht aber Glaubensinhalte, welche die Sitten und Überlieferungen der Ahnen in Frage stellten oder gar änderten.

Die Lage verschlimmerte sich im März 1835, als die Königin in ihrem Edit von Imahamasina verkündete, dass sie folgende Dinge nicht mehr auf ihrem Boden sehen wolle: Gesellschaft, Komitees, Missionare, Schulen, Compagnie, Jehovah und Jesus. Die Königin erklärte, dass Jehovah ein Ahne der Engländer sei und Jesus ein Vorfahre der Franzosen. Sie drohte all jenen mit der Todesstrafe, die den fremden Ahnen nacheiferten. Die madagassischen Christen hatten einen Monat Zeit, um königliche Verzeihung zu bitten, andernfalls drohte ihnen die Todesstrafe.

Die Missionare beschlossen, unter den gegebenen Umständen nicht mehr weiterzumachen. In einem wahren Rennen gegen die Zeit wurden alle Energien in den Buchdruck gesteckt. Im Juni 1835 verliessen die ersten Bibeln, gedruckt und gebunden, die L.M.S.-Druckerei.

Die Königin war zwar weiterhin an den technischen Qualitäten einzelner Missionshandwerker interessiert. So bot sie dem Schmied Chick einen Einzelvertrag an, ebenso James Cameron. Doch Chick stand aus Gesundheitsproblemen kurz vor der Abreise nach Südafrika. Und Cameron wollte neben der Handwerkskunst eben auch die Bibel verbreiten und schloss sich im Juni 1835 den abreisenden Missionarskollegen an.  Auch Griffiths ging zwei Monate später. Die Missionare waren nicht direkt ausgewiesen worden, sie hätten auch weiterhin - als Lehrer - Rechnen und Schreiben unterrichten dürfen, doch sie empfanden die religiösen Restriktionen als eine unerträgliche Bedingung. Zudem hatten diese äusseren Spannungen seit langer Zeit auch zu Problemen innerhalb der Missionsgemeinschaft geführt. Der aus Wales stammende Jones (jonja lava) und Griffiths waren volksverbunden und beliebt, stiessen bei den Kollegen allerdings auf wenig Gegenliebe. Insbesonders Griffiths wurde von seinen Kollegen als arrogant und selbstsüchtig beurteilt. Aufgrund von Klagebriefe befahl ihm die L.M.S. die Rückkehr nach England, der sich Griffiths energisch widersetzte, worauf ihm ab 1834 sein Gehalt entzogen wurde. Doch Griffiths blieb trotzdem, sich seiner Unterstützung bei Hof und Volk bewusst.

Nur noch zwei L.M.S.-Vertreter blieben ab 1835 ein weiteres Jahr in Antananarivo: Johns und Baker beendeten den Druck eines madagassisch-englischen Wörterbuches und die Übersetzung des erbaulichen Buches von John Banyan (1678) 'Pilgrim's Progress'. (Gedruckt wurde es erst später in London.) Sie verteilten die Bibeln an christliche Freunde, versteckten die letzten 70 Bibel-Exemplare und verliessen im Juli 1836 das Land.

Damit ging eine erste Phase von 16 Jahren Missionstätigkeit zu Ende: 10’000 bis 15’000 Personen waren unterrichtet worden, nicht nur Kinder, sondern auch Männer und Frauen. Eine breite Palette an Handwerksfähigkeiten war madagassischen Lehrlingen beigebracht worden. Imerina hatte - dank den L.M.S.- Missionaren - einen technologischen Sprung nach vorn gemacht.

Erst 25 Jahre später, nach dem Tod von Königin Ranavalona I im Jahre 1861, strömten wieder Missionare ins Land.

Die madagassischen Christen trafen sich fortan an geheimen Orten, versteckten sich in den Grotten von Manjakaray und Angavokely oder flüchteten in die Gebirge von Vakinankaratra und in den Vonizongo im Norden von Imerina. Der Premierminister Rainiharo sandte mehrmals Soldaten in diese Regionen, um die Christen aufzuspüren und in Eisen gelegt in die Hauptstadt zu eskortieren.

1838 gelang es einer Kolonne von versteckten Christen, sich aus Vonizongo nach Tamatave durchzuschlagen, wo Johns mit einem Schiff wartete und 10 nach Südafrika und 6 davon nach England brachte. Nur einer dieser Glaubensflüchtlinge, Joseph Rasoamaka, kehrte 1861 nach Madagaskar zurück, die anderen starben in der Fremde.

Im September 1838 gelangte Griffiths nach Antananarivo, als Händler getarnt. Er hatte dem Premierminister Rainiharo die Hälfte des Profits versprochen und so eine Aufenthaltsgenehmigung von 5 Jahren erhalten. Im Mai 1840 scheiterte sein Einsatz als Fluchthelfer für 16 Christen, weil der Führer sie verriet. Zwei Monate später, im Juli 1840, kam David Jones (jonja lava) mit einem Botschafter der Queen: aber sie brachten nur die Nachricht, dass Victoria sich mit Prinz Albert verheiraten werde. Die verärgerte Königin liess die beiden noch im gleichen Monat abziehen, mit Griffiths im Geleit.

Ranavalona fand in den Christen immer wieder geeignete Sündenböcke und Repräsentanten des drohenden Fremden. So befahl sie mehrere Wellen der Christenverfolgung (1837, 1849, 1857). Die entdeckten Christen wurden als Sklaven verkauft. Bücher, Bibeln und die inzwischen eingeschmuggelte und unter den madagassischen Christen sehr populäre Schrift 'Pilgrim's Progress' wurden verbrannt.

Etliche Christen wurden getötet. Als erste Märtyrerin starb die 37-jährige Rasalama. Sie wurde im August 1837 in Ambohipotsy, an der südlichen Ecke der rova, mit einer Lanze in den Rücken zu Tode gebracht. Weitere Todesstrafen folgten, vor allem in den Jahren 1949 und 1857 (als alle Ausländer, auch Jean Laborde, ausgewiesen wurden), insgesamt wurden über 50 Christen vergiftet, gespeert, enthauptet, von Felsen gestossen. 1849 wurden vier Christen bei lebendigem Leib verbrannt, weil sie adliger Herkunft waren und bei ihrem Tod kein Blut fliessen durfte. Eine der Verurteilten war schwanger und erlitt auf dem Scheiterhaufen eine Frühgeburt, das Kind wurde ebenfalls Opfer der Flammen. An dieser Stelle wurde 1870 die Kirche von Faravohitra erbaut und 'Kirche der Kinder' benannt.

Am gleichen Tag, dem 29. März 1849, wurden 14 Christen, in Bastmatten eingerollt, über den Felshang von Ampamarinana gestossen. (Ampamarinana heisst: der Felsen, von dem man die Verurteilten stösst.) Einer der Todgeweihten, so berichtet die fromme christliche Legende, blieb in den Büschen hängen und rief dem Soldaten, der den steilen Felsen heruntergeklettert kam, zu, er solle sich nicht in Lebensgefahr begeben, er schaffe es alleine, sich aus dem Gebüsch zu befreien und hinunterzufallen.

1856 empfing die Königin den Sekretär der L.M.S., William Ellis, äusserst zuvorkommend, nachdem sie ihm 1853 und 1854 verboten hatte, bis zur Hauptstadt zu kommen.

Die wechselhafte Haltung der Königin Ranavalona I hatte wohl mit ihrer generellen Abneigung gegen das Christentum und fremden Sitten zu tun und ihrer Vorliebe für die althergebrachte Tradition. Aber ebenso mit ihrer Furcht vor einer Auslandsabhängigkeit. Daher tolerierte sie das Treiben der Missionare, solange sie nützliche Produkte lieferten und durch diese Importsubstitution die Auslandsabhängigkeit minderten. Zudem hatte sie keine technologische Alternative und während des Konflikts mit Frankreich (1828- 1830) war es unweise, sich auch noch mit den Briten anzulegen.

Erst mit Laborde, der keiner Missionsgesellschaft angehörte und schon vor 1835 bewiesen hatte, dass er Kanonen herstellen konnte, sah die Königin ihre Chance, auf die weiteren Dienste der Engländer zu verzichten. Zudem waren die Aufbauarbeiten der Briten erledigt, die madagassischen Arbeiter ausgebildet. Laborde konnte sich bei seinen Industrieprojekten auf dieses lokale Know-how stützen. Einzig Cameron und allenfalls Chick wollte die Königin halten - ihrer technischen Fähigkeiten wegen.

Kaum war Ranavalona I gestorben und hatte Rakoto als Radama II den Thron bestiegen, erlaubte er die freie Ausübung der Religion, sei es die christliche oder die traditionelle. Im Untergrund hatte die christliche Gemeinde überlebt und sogar zugenommen: 1836 zählte man zwischen 1000 und 2000 Christen, 1861 waren es 7000 Gläubige.

Diese Öffnung wurde von den Missionaren der L.M.S., die in Mauritius ungeduldig warteten, mit Genugtuung aufgenommen. Und gleich forderte der L.M.S.-Sekretär William Ellis den König auf, die Stätten der Märtyrer für den Bau von Kirchen freizuhalten. Diesem Gesuch entsprach König Radama II ohne Zögern: in Ambohipotsy, Ambatonakanga, Ampamarinana, Faravohitra wurden später vier Erinnerungskirchen erbaut.

Die Missionare strömten wieder ins Land, begleitet von Lehrern und Ärzten. Ein theologisches Kollegium wurde errichtet und der Schulunterricht wieder aufgenommen. Auch die künftigen Königinnen Ranavalona II und Ranavalona III besuchten die protestantischen Missionsschulen. Die Königin Rasoherina, die 1863 auf Radama II folgte, errichtete in Analakely ein Spital, das von drei Missionsgesellschaften geleitet wurde: die britische L.M.S.(London Missionary Society), die amerikanische FFMA (Friends Foreign Mission Association) und die norwegische Missionsgesellschaft N.M.S.(Norske Misjonsselskap).

Die Periode unmittelbar nach 1861 ist von einem fieberhaften Bau von Kirchen gekennzeichnet. Die erste Kirche aus Stein - trano vato (Steinhaus) genannt - war jene von Ambatonakanga, erbaut 1867 an der Stelle der Kirche von 1831, die Rasalama als Gefängnis gedient hatte. (Erst nach einer massiven Feuersbrunst 1864 wurde das Bauen mit Steinen und Ziegelsteinen in der Stadt erlaubt.)

Das zweite Gotteshaus wurde 1868 in Ambohipotsy an der Stelle erbaut, wo Rasalama 1837 als erste Christin zu Tode gespeert wurde.

Zwei weitere Kirchen entstanden in Faravohitra (1870) in Erinnerung an die Scheiterhaufenverbrennung von 1849 und in Ampamarinana (1874) in Gedenken an die Felsenstürze. Der Kirchenbau der L.M.S. unterstand dem 1863 zurückgekehrten Cameron, dem die Architekten William Pool und James Sibree zur Seite standen.

Ranavalona II erlaubte gar den Bau einer protestantischen Kirche innerhalb der rova und liess sich auch taufen (1869), ebenso wie ihr Mann, der Premierminister Rainilaiarivony.

Damit hatte die - protestantisch-calvinistische - Kirche endgültig die Oberhand über den traditionellen Glauben gewonnen und somit auch über die Talismane, die 1869 auf Geheiss der Königin verbrannt wurden.

Die christliche Kirchengeschichte in Madagaskar war bis zum Ende der Herrschaft der Königin Ranavalona I die Geschichte der L.M.S., ihrer Schulen und ihrer Missionshandwerker. Erst danach setzten sich auch andere Konfessionen fest und gewannen mit medizinischer Hilfe und Sozialarbeit an Wichtigkeit. Die L.M.S. konzentrierte sich weiterhin bevorzugt auf Merinaland und half somit, die Kluft zwischen Merina und Küstenleuten (côtiers) zu vergrössern.

Die katholische Kirche verbuchte auf dem Hochland vor 1862 kaum Erfolge. Henri de Solages hatte 1832 vergeblich versucht, nach Antananarivo zu kommen, er wurde von Ranavalona I zurückgewiesen und starb unterwegs an Malaria. In den französisch dominierten Gebieten von Ste. Marie, Nosy Mitsio (heute Nosy Radama nordöstlich von Nosy Be) und Nosy Be bestanden ab 1837 katholische Missionen. Ein bekannter katholischer Missionar jener Zeit und Autor mehrerer Bücher war Abbé Pierre Dalmond, der 1847 starb. Dalmond suchte weitere Operationsgebiete für die katholische Mission ausserhalb des französischen Einflussgebietes, so sah er sich 1842 in Saint-Augustin um, ohne dass es dort jedoch zu einer Gründung kam. Das älteste noch erhaltene Gotteshaus Madagaskars steht noch heute in Ste. Marie: die katholische Kirche wurde 1857 erbaut.

Die Katholiken kamen erst 1862 nach Tamatave und nach Antananarivo, 1871 nach Fianarantsoa. Auch sie bauten eifrig Kirchen, errichteten Schulen und Seminare. In Antananarivo entstand unter anderem die Kathedrale von Andohalo, die 1890 eingeweiht wurde. Die Jesuiten konzentrierten sich auf die Küstengebiete und taten sich insbesonders in Lehre und Forschung hervor.

Die Bezeichnung tempoly (vom englischen temple) für protestantische Kirchen und eglizy (vom französischen église) für katholische Gotteshäuser hat sich bis heute in der madagassischen Sprache gehalten.

Eine Sonderstellung innerhalb der katholischen Kirchgemeinde nimmt Victoire Rasoamanarivo ein. Sie lebte von 1848 bis 1894 und wurde vom Papst Johannes Paul II während seines Besuchs in Madagaskar 1989 seliggesprochen. Man schreibt ihr ein heiliges, dem Glauben geweihtes Leben zu, sie soll auch Wunder gewirkt haben.

Die anglikanische Mission war ab 1874 vor allem an der Ostküste tätig. Sie nannte sich später Eklezia Episkopaly Malagasy. In Antananarivo baute sie die anglikanische Kathedrale von Ambohimanoro, die 1889 vom Premierminister eingeweiht wurde. Die Anglikaner begründeten auch ein theologisches Kollegium in Ambatoharanana bei Ambohimanga.

Mit der L.M.S. arbeiteten die norwegische Mission (Lutheraner) und die Quäkers eng zusammen. Der norwegische Missionspionier Lars Dahle tat sich in der Erforschung von Geschichte, Kultur und Sprache der Madagassen hervor. Die Norweger waren in Morondava, Tulear, Fort-Dauphin tätig. 1869 liessen sie sich im damals kleinen Dorf Antsirabe nieder und konzentrierten ihre Hauptaktivität fortan auf dieses Gebiet: Spital, Leprastation, Schulen, Blindenschulen, und später auch Aktivitäten in der Landwirtschaft und der Milchwirtschaft. Die Entwicklung von Antsirabe zur zweitgrössten Stadt Madagaskars geht zu einem nicht unwesentlichen Teil auf die vielfältigen Tätigkeiten der norwegischen Mission zurück.

Dieser zweite Anlauf der Missionierung ab 1861 war gekennzeichnet durch die gebrochene Dominanz der L.M.S. und die Öffnung für andere Bekenntnisse, durch eine grössere Ausstrahlung über Imerina hinaus und durch die breitere Tätigkeit der Missionare. Die erste Welle an Missionaren vor 1835 waren Lehrer, Handwerker und Linguisten. Die zweite Welle brachte eine neue Generation von Missionaren, die sich als Ärzte und Naturwissenschafter betätigten, als Ethnologen und Soziologen, die dem Land und seinen Traditionen mehr Verständnis entgegenbrachten.

Die L.M.S.-Missionare unterrichteten in den Schulen auf madagassisch, die Katholiken hingegen auf französisch. 1894 besuchten 137’000 Schüler den protestantischen Unterricht und nur 27’000 die katholischen Schulen. So war die Kenntnis der französischen Sprache - respektive der kreolischen Form davon - durch Schule, Colons und Händler viel weiter verbreitet als die englische Sprache.

Nach dem Einmarsch der Franzosen 1895 engagierten sich die Missionen in verstärktem Mass im Schulbereich und in der medizinischen Versorgung. Die Katholiken wurden von der Kolonialbehörde wohlwollender behandelt als die Vertreter anderer Konfessionen. Doch die Invasion der französischen Truppen schürte in einer ersten Phase eine antichristliche Tendenz, die vor allem von den Menalamba vertreten wurde. Der Quäker William Johnson und seine Familie waren die ersten Opfer dieser Traditionalistenbewegung: die Familie Johnson wurde in Arivonimamo noch im Jahre 1895 von den Menalamba umgebracht.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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