Reisende
im 19. Jahrhundert
Der
Hauptharst der ausländischen Besucher Madagaskars im 19.
Jahrhundert - ausser den Soldaten der französischen
Invasionstruppen - waren Matrosen von Handelsschiffen nach
Indien, Ostindien oder auf dem Rückweg nach Europa. Sie
hinterliessen nebst Eintragungen in Bordbüchern kaum
schriftliche Aufzeichnungen der besuchten Regionen und hielten
sich meist nur kurze Zeit an den Gestaden der Insel auf. Zudem
war Madagaskar im 19. Jahrhundert noch immer ein Eldorado für
Sklavenhändler und Schmuggler. Diese Kategorie Seefahrer
hatte verständlicherweise keine Zeit und auch kein
Interesse, Schriftstücke ihrer Aktivitäten und
Beobachtungen anzufertigen.
Und
doch sind Dokumente erhalten, die einen Eindruck geben über die
Lebensumstände der Madagassen im 19. Jahrhundert. Die
meisten Manuskripte stammen von Missionaren, die ab Mitte des
19. Jahrhunderts in immer grösserer Zahl nach Madagaskar
kamen. Eine wesentliche Quelle bilden die von den Missionaren für
ihre Zentralen erstellten Berichte und Rapporte. In der ersten Hälfte
des Jahrhunderts sind dies vor allem die Mitarbeiter der London
Missionary Society, deren Rapporte ein buntes Gemisch an Notizen
bilden, das von Preisangaben bis hin zu meteorologischen
Beobachtungen reichen, von ethnologischen Beschreibungen bis zu
religiösen Betrachtungen über 'die Seele der Madagassen'.
Allein die Bibliothek der London Missionary Society umfasst eine
ungeheure Fülle an Informationsmaterial, das zum Teil bis heute
noch nicht wissenschaftlich erforscht und in einen grösseren
Zusammenhang gebracht worden ist.
Der
Sekretär der L.M.S., Reverend William Ellis, publizierte
bereits 1838 ein zweibändiges Werk über Madagaskar (History
of Madagascar), obwohl er die Insel viele Jahre später
(1853) erstmals betrat und bis 1856 warten musste, um doch noch
bis zur Hauptstadt reisen zu dürfen. Doch Ellis hatte - nebst
den damals bereits erschienenen Bücher über Madagaskar - sämtliche
Rapporte der L.M.S.-Missionare zur Verfügung und erarbeitete
ein bis in die heutige Zeit grundlegendes Referenzwerk. Ellis
veröffentlichte später noch weitere Berichte seiner
insgesamt vier Reisen nach Madagaskar.
Nebst
den zu ihrem Auftrag gehörenden Rechenschaftsberichten
schrieben einige der Missionare und Missionshandwerker auch
wertvolle Aufzeichnungen und Bücher, in denen sie ihre
Beobachtungen, Gedanken und Studien in geordneter Form
zusammenfassten und herausgaben. Dazu gehört der britische
Architekt James Sibree, der 1870 nach vier Jahren Aufenthalt
sein Buch 'Madagascar and its people' publizierte und zehn Jahre
später das Werk 'Madagascar. The Great African Island'. Erwähnenswert
sind auch die Aufzeichnungen des britischen Missionars W. E.
Cousins, der ohabolana (Sprichwörter) sammelte, ebenso wie
die Reden des Königs Andrianampoinimerina, die von
einzelnen Madagassen auch drei Generationen nach dem Tod des
grossen Königs noch wortgetreu wiedergegeben werden
konnten.
Ein
grosses Verdienst gehört dem französischen
Jesuitenpater François Callet, der die in oraler Tradition
weitererzählten Legenden und Geschichten der Merina-Könige
und ihres Volkes sammelte und in drei Bänden 1872/73 als 'Tantaran'ny
Andriana eto Madagascar' (Geschichte der Könige
Madagaskars) veröffentlichte. Auf diese in madagassischer
Sprache verfasste und erst Jahrzehnte später auf französisch
übersetzte Publikation wird heute noch Bezug genommen, auch von
den Madagassen. Père Callet kam 1864 nach Antananarivo und
widmete sich bis zu seinem Lebensende (1885) mit minutiöser
Genauigkeit den Genealogien, Sagen und Sprichwörtern der
Merina.
Herausstehend
sind auch die Publikationen von Lars Dahle, einem Priester der
norwegischen Mission in Madagaskar. Er nutzte seinen Aufenthalt
von 17 Jahren (ab 1870), um Märchen und Sprichwörter
zu sammeln, die er 1877 in einem ersten Buch über die
madagassische Volkskunde veröffentlichte.
Demgegenüber
behandelten die vielen Publikationen der britischen Missionare (Freeman,
Griffiths, Baker) der ersten Phase eher den Wortschatz und die
Grammatik der madagassischen Sprache. Diese Schriften spiegeln
die Bedürfnisse dieser Missionspioniere, sich erst mal mit der
Sprache vertraut zu machen, Wörterbücher zu erarbeiten und
die Bibel zu übersetzen.
Nebst
den Missionaren besuchte im 19. Jahrhundert eine zunehmende
Anzahl Reisender die Insel Madagaskar. Viele davon hielten ihre
Beobachtungen in Tagebüchern fest, die heute eine wichtige
Quelle in der Geschichtsforschung Madagaskars darstellen -
obwohl sie zuweilen lückenhaft und oft durch eine moralische
oder kolonialphilosophische Brille gefiltert sind. Etliche der
Tagebücher wurden erst Jahre oder Jahrzehnte nach der
Madagaskarreise publiziert.
Die
Mehrzahl der Reisenden kam im offiziellen - oder
geheimgehaltenen - Auftrag von Regierungen und
Missionsgesellschaften, von Studienkreisen und
Forschungsinstituten. Um die Jahrhundertwende hielt sich Lesage
(1816 - 1817) als erster Abgesandter des britischen Gouverneurs
von Mauritius in Antananarivo auf und begründete die lange
Freundschaft zwischen dem Merina-Reich und Grossbritannien: mit
Radama I ging er gar eine Blutsbruderschaft ein. Er wurde abgelöst
von den britischen Korporalen Brady und Hastie, beide
avancierten zu Offizieren der Merina-Truppen und gewannen das
Vertrauen von Radama. James Hastie, der 1817 einen wesentlichen
Beitrag zur Entstehung des Vertrags zwischen Grossbritannien und
dem Merinareich geleistet hatte, veröffentlichte seine
Erlebnisse in Buchform. Er starb vielbetrauert 1826 in
Antananarivo.
Der
französische Maler Copalle hielt sich 1825 - 1826 am Hofe
des Königs Radama auf. Von ihm stammt das berühmte Gemälde,
das Radama I in goldverzierter Uniform, Säbel und
Kriegshelm zeigt und somit den militärischen Charakter des
jungen Königs herausstrich. Dr. Robert Lyall war ab 1827
der residente Vertreter Grossbritanniens in Antananarivo und
Nachfolger von Hastie. Seine amtlichen Korrespondenzen sind
erhalten und zeigen die tragische Entwicklung der Beziehungen
des Merina-Reiches mit Grossbritannien nach dem Tod von Radama.
Er musste das Land auf Geheiss der Königin Ranavalona 1829
zusammen mit Brady verlassen, zog sich auf Mauritius zurück und
starb in irrem Zustand.
Die
österreichische Weltenbummlerin Ida Pfeiffer reiste auf
eigene Faust und schaffte es trotz ihres fortgeschrittenen
Alters von 60 Jahren 1857 bis in die Hauptstadt des
Merinareiches und dies zu einer Zeit, da Lambert und seine
Freunde den misslungenen Sturz der Königin Ranavalona I in
Szene setzten. Alle Europäer mussten unverzüglich das Land
verlassen, so auch Ida Pfeiffer, die in ihrer viktorianischen
Grundgesinnung den Madagassen nicht sehr viel Lob zollt. Sie
erkrankte auf Mauritius schwer 'am abscheulichen
Madagaskar-Fieber', schaffte es krank und gebrechlich über
London und Hamburg in ihre Heimatstadt Wien, wo sie im Oktober
1858 verstarb.
Etliche
weitere Autoren veröffentlichten Erzählungen ihrer
Reisen, die vornehmlich in den letzten zwei Jahrzehnten des
ausgehenden 19. Jahrhunderts stattfanden, so H.E. Clark (1884)
und L. Catat (1889 - 1890).
Flora
und Fauna der Insel hatten die Naturalisten fasziniert, seit
Commerson sie 1770 als das 'verheissene Land' deklarierte. So
erhielt die Insel im 19. Jahrhundert den Besuch einer ganzen
Reihe Wissenschaftler, die botanisierten, sammelten, bestimmten
und zuweilen so auf ihre Aufgabe konzentriert waren, dass die
Madagassen wohl ungläubig den Kopf schüttelten. Einer der
Insektensammler (Jules Goudot), der um 1830 auf der Insel
weilte, wurde von den Madagassen bibikely (kleines Tier)
genannt.
Die
Sammlungen und das erworbene Wissen wurden aus Madagaskar in die
Naturkunde-Museen in Europa 'exportiert'. Lebendpflanzen wurden
auch schon mitgenommen, so nach Mauritius, wo heute rund 10% der
Flora aus Madagaskar stammt. Andere hingegen brachten neue
Pflanzenarten nach Madagaskar, so der Botanist André Michaux,
der zu Beginn des 19. Jahrhunderts an der Ostküste residierte
und Avocado, Litchis, Guaven und Néflier (Mispelbaum) einführte.
Die
einzigen, die naturkundliche Spuren hinterliessen, waren die
1822 ebenfalls vom Gouverneur in Mauritius geschickten Winceslas
Bojer (aus Prag) und Karl Theodor Hilsenberg (aus Erfurt), die
in Begleitung von Hastie bis nach Antananarivo gelangten, wo
Bojer den Garten von König Radama I verschönerte. Aus
diesem Pflanzenhain entstand später der zoologische Garten
von Tsimbazaza. Bojer kehrte 1823 nach Mauritius zurück und
wurde Professor und Direktor eines botanischen Gartens, während
Hilsenberg 1824 in Ste. Marie starb.
Nach
der erneuten Öffnung des Landes ab 1861 strömten eine
Reihe weiterer Naturkundler ins Land, zumeist Franzosen und
allenfalls noch Briten, seltener Angehörige anderer
Nationalitäten.
Einzelne
in Madagaskar tätige Händler hinterliessen
schriftliche Dokumente, insbesonders an der Ostküste zu Beginn
des 19. Jahrhunderts, weil der britische Vertreter Farquhar, wie
auch seine französischen Konkurrenten, begierig auf alle
Informationen aus Madagaskar war. (Farquhar kam selber nie nach
Madagaskar.)
So
sind Niederschriften eines Sklavenhändlers erhalten, der
seine Träume durch das Schreiben von Rapporten zu
verwirklichen suchte. Der an der Ostküste tätige Händler
Barthélémy Hugon hoffte auf eine Wiederbelebung des französischen
Interesses an Madagaskar und redigierte auf dieses Ziel hin
mehrere Papiere, so auch über Ste. Marie und Fort-Dauphin. Ihm
wurde daraufhin der Job eines Handelsagenten in Fort-Dauphin
versprochen. Doch 1825 wurde der von einem Offizier und 4
Soldaten bloss symbolisch besetzte französische Posten in
Fort-Dauphin von den Merina eingenommen. Der enttäuschte
Hugon gab daraufhin seine literarische Tätigkeit auf.
Doch
von ihm ist die einzige Beschreibung des Königs
Andrianampoinimerina erhalten, den er 1808 in Antananarivo
besuchte.
Höchst
aussergewöhnlich ist das Lebenswerk von Alfred Grandidier
(1836-1921), der von 1865 bis 1870 so gut wie alle Regionen
Madagaskars besuchte und um die 5500 Kilometer zurücklegte, zum
Teil unter sehr abenteuerlichen Umständen. Dabei füllte er
tausende von Seiten mit Notizen und Aufzeichnungen, Skizzen und
Karten. 1870 wurde der 34-jährige Grandidier in die französische
Armee einberufen (Deutsch-Französischer Krieg von 1870/71).
Danach blieb er zwar in Frankreich, widmete sich aber bis an
sein Lebensende der systematischen Erforschung Madagaskars. Sein
publiziertes Gesamtwerk von 34 Bänden umfasst Abhandlungen
über alle Aspekte Madagaskars, von Geographie und Geschichte über
Ethnologie bis hin zu Botanik. Er publizierte 1871 auch eine
sehr exakte Karte, die nicht nur die Umrisse wiedergab, sondern
die auch - erstmals - Gebirge und Flüsse, Wälder und gar
Siedlungen im Landesinneren beinhaltete. Dieses
Mammutunternehmen wurde von seinem Sohn Guillaume (1873-1957)
weitergeführt: heute gehört die Sammlung der
Grandidier-Schriften schlicht zum Standardwerk über Madagaskar.
Alfred Grandidier litt allerdings unter einer Schwäche: er
hätte sich viel lieber mit Asien (Tibet) beschäftigt,
Afrika gegenüber hegte er eine profunde Abneigung. Doch durch
widrige Umstände gelangte er als 29-jähriger nach
Madagaskar und stritt fortan jegliche afrikanische Kultureinflüsse
in Madagaskar so weit wie möglich ab. Trotzdem bleibt sein
Verdienst ungeschmälert, wenn auch der heutige Stand der
Forschung vielen Argumenten dieses aussergewöhnlichen
Wissenschaftlers nicht mehr folgen kann, insbesonders was die
Herkunft der Madagassen betrifft.
Alle
heutigen 'malgachisants', wie die sich mit Madagaskar beschäftigenden
Wissenschaftler verschiedenster Disziplinen genannt werden,
kommen nicht um eine intensive Lektüre der tausende von Seiten
umfassenden Werks von Vater und Sohn Grandidier herum.
Eine
andere herausragende Figur des 19. Jahrhunderts war Jean Laborde.
Laborde war eine Art Kulturheros für Imerina, ein unerschöpfliches
Universaltalent und genialer Organisator. Das war der britische
Missionar James Cameron allerdings auch. Doch Laborde hatte noch
eine weitere Fähigkeit: er war skrupellos. Zudem wusste er
sich in Gesellschaftskreisen zu bewegen, schmiss zuweilen gern
Feste, inszenierte auf dem Lac Anosy kleine Seeschlachten zur
Freude von Königin und Höflingen und bereicherte sich
durch seine vielfältigen Aktivitäten schamlos. Dadurch
war er für die Madagassen fassbarer und menschlicher als die
gottnahen, pietätischen Missionare.
Der
schiffbrüchige Laborde schaffte es innerhalb von 30 Jahren vom
technischen Experten mit Lokalvertrag bis zum einflussreichen
Konsul Frankreichs. Er starb schwerreich, sodass um die
Erbschaft - wenn auch nur als Vorwand - ein Krieg zwischen
Frankreich und Imerina ausbrach (1883-1885), in dessen Folge das
Merinareich unter die Dominanz Frankreichs kam, die zur militärischen
Annexion von 1895 und zur Kolonie von 1896 führte.
Die
meisten schriftlichen Zeugnisse des 19. Jahrhunderts stammen von
Nicht-Madagassen. In diesem Zusammenhang darf aber das Werk von
Raombana nicht unerwähnt bleiben. Der junge Merina nobler
Herkunft weilte von 1821 bis 1828 in England und wurde in
Humanwissenschaften ausgebildet, im Gegensatz zu seinen acht
Kollegen, die technische Fertigkeiten erlernten. Als der 18-jährige
Raombana ins Land zurückkehrte, war der König Radama eben
gestorben. Er wurde Staatssekretär und hatte dadurch freien
Zugang zu Hof und Königin. Insgeheim notierte er die Vorgänge
und Intrigen am Hof, die Ereignisse in der Stadt und die
Entwicklungen im unruhigen Staat, schrieb Gespräche auf und
stellte tiefsinnige Betrachtungen an. Daraus entstanden über
8000 Seiten Informationen aus erster Hand, alle in englischer
Sprache redigiert, die eine Fundgrube für Geschichtsinterpreten
sind und ein kostbares Zeitdokument einer bewegten Periode in
der Geschichte Madagaskars darstellen. Der erste Historiker
Madagaskars, Raombana, lebte von 1809 bis 1855 und erlebte die
Veröffentlichung seiner Werke nicht: sie wurden erst über
hundert Jahre später 'entdeckt' und publiziert.
Ein
weiterer Chronist jener Zeit war Rainandriamampandry, ein
protestantischer Priester, der als Gouverneur von Tamatave dem
Einfall der Franzosen trotzte (1895), von den Franzosen zum
Innenminister gemacht wurde und schliesslich ein Jahr später
nach einem unfairen Prozess erschossen wurde.
Leider
sind all diese Werke, allen voran die Arbeiten von Grandidier, längst
vergriffen und nur noch in spezialisierten Archiven und
Bibliotheken zugänglich. So sind sie auf dem freien Markt
weder für interessierte Europäer greifbar, noch für
motivierte Madagassen erwerbbar.
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