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PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Kolonialzeit

Mitte Nachmittag des 30. September 1895 wehte eine weisse Fahne über der rova in Antananarivo: die Königin Ranavalona III und ihre Merina-Armee ergaben sich den Voraustruppen des 25’000 Mann starken französischen Expeditionscorps unter General Duchesne.

Am folgenden Tag (1. Oktober 1895) unterschrieb die Königin einen Protektionsvertrag und besiegelte damit die bedingungslose Kapitulation des Merinareiches.

Die Königin und die Merina-Administration durften vorläufig im Amt bleiben. Den Franzosen schwebte eine Art indirekter Herrschaft vor, innerhalb derer sie sich weiterhin der Königin und der Merina-Verwaltung bedienen wollten. Als Gegengewicht zur andriana-Monarchin wurde der hova-General Rainandriamampandry zum Innenminister ernannt. Der Kommandant Rainandriamampandry hatte mit seiner Garnison die Stellung in Farafaty (bei Tamatave) unbesiegt gegenüber den eindringenden Franzosen behauptet, wurde aber von der Königin in die Hauptstadt zitiert, wo auch er sich der Kapitulation zu beugen hatte. Die Merina-Armee wurde entwaffnet. Doch von den 30’000 Gewehren waren nur 8000 Stück auffindbar.

Der langgediente Premierminister Rainilaiarivony wurde unter Hausarrest gestellt und am 6. Februar 1896 nach Algerien ins Exil geschickt, wo er fünf Monate später als 68-jähriger gebrochener Mann starb. (Seine Asche wurde 1900 von seiner Familie nach Madagaskar gebracht und im monumentalen Familiengrab (fasan-d'Rainiharo) in Isotry beigesetzt.)

Schon wenige Wochen nach der Kapitulation des Merinareiches flackerten in mehreren Regionen spontane Aufstände auf. Die Franzosen reagierten mit unerbittlicher Armeegewalt, sandten Strafexpeditionen und trafen auf den ersten ernsthaften Widerstand seit ihrer Invasion. Die Aufständischen wurden erst abschätzig fahavalo (Banditen) genannt. Diese Bewegung gegen die französischen Invasoren erhielt jedoch schnell den Namen Menalamba, denn das Tragen eines roten (mena) Tuches (Lamba) diente als Erkennungszeichen. (Ob die Lamba wirklich rot waren, ist nicht bekannt. Der L.M.S.-Architekt Sibree schrieb, dass sie Menalamba die traditionellen weissen Lamba trugen, die aber infolge des Lebens im Busch lateritrot verfärbten.) Das Lamba spielt bei der famadihana (Totenumdrehung) eine zentrale Rolle als Leichentuch für die Ahnen. Die Menalamba schworen auf traditionelle Werte und führten die sampy (Talismane) wieder ein.

Eine erste Welle des Widerstandes zeigte sich in Arivonimamo, gleich westlich der Hauptstadt. Dort wurde am 22. November der Missionar William Johnson, seine Frau Lucy und ihr Kind umgebracht. Sie waren geblieben, obwohl sie schon Tage vorher wussten, dass sich tausende von Bewaffneten auf dem Weg zu ihnen befanden. Der 22. November hatte symbolische Bedeutung: er war zugleich der traditionelle Tag des Königsbades (fandroana) und damit Zeichen eines breiten Aufflammens von Aktionen gegen die Franzosen. Dieser Widerstand richtete sich sehr schnell auch gegen die englischen Missionare, gegen Christentum und europäisches Gedankengut: kurzum gegen 'das Fremde'. Doch der grosse Aufstand sollte am 14. März beginnen, einem günstigen Tag gemäss der traditionellen Astrologie und dem ersten Tag des Mondmonates Alahamady.

Der französische Generalresident Hippolyte Laroche brachte das Land auch mit militärischen Mitteln nicht zur Ruhe. Im Gegenteil, im März 1896 brachen Aufstände wie ein Lauffeuer aus und zwar in allen Landesteilen. Antsirabe wurde Ende Mai 1896 von den antifranzösischen Truppen belagert, die auch bis auf wenige Kilometer an Antananarivo herankamen. Die Strasse von Antananarivo nach Antsirabe blieb bis 1897 unterbrochen und konnte nur von schwerbewaffneten Armeekonvois begangen werden.

In verschiedenen Regionen zeichneten sich bald Führerpersönlichkeiten der Menalamba aus. Rainizafivoavy besetzte den Imamo. Auch in Vakinankaratra, in Betsileoland und im Süden erhoben sich die Völker. Ebenso das Volk der Sihanaka in der Region des Lac Alaotra. Und im Nordosten von Imerina, dort wo unter der Monarchie die alten Grenzgarnisonen stationiert waren und sich die königlichen Weiden befanden, erhoben sich die ehemaligen Gouverneure Rabezavana und Rabozaka. Der Garnisonskommandant Rabezavana marschierte gegen Antananarivo und kam mit seiner Truppe bis nach Ankazobe. Rabezavana war womöglich der oberste Chef der Menalamba.

Ein Jahr nach der fast kampflosen Einnahme der Merina-Hauptstadt Antananarivo waren die Franzosen umzingelt von aufständischen Truppen, die in einer Guerillataktik operierten und so für die in konventioneller Kriegsführung geschulten Franzosen unfassbar blieben. Die französischen Truppen hielten zwar Städte wie Fianarantsoa, Tamatave, Diégo-Suarez und Mahajanga, doch schon die unmittelbare Umgebung befand sich unter der Kontrolle der Menalamba.

Angesichts der misslichen Lage der Besetzungsmacht und des Scheiterns der indirekten Herrschaft beschloss die französische Regierung am 6. August 1896 die Annexion Madagaskars, die am 27. September 1896 in Kraft trat: Madagaskar wurde eine Kolonie Frankreichs. Gleichzeitig sandte Frankreich General Joseph Simon Galliéni, um dieses Mandat zu vollstrecken.

Damit wurde Realität, was seit Jahrhunderten in den Köpfen etlicher Franzosen und vieler Plantagenbesitzer aus La Réunion schwebte: Madagaskar war - endlich und endgültig - unter französischer Kontrolle. Galliéni blies ins gleiche Horn: Madagaskar ist französische Erde.

Schon 1858 war in Frankreich ein Buch von Barbié du Bocage erschienen mit dem bezeichnenden Titel: 'Madagascar, possession française depuis 1642'. (Mit diesem Datum spielte der Autor auf die Niederlassung in Fort-Dauphin an.)

Am 26. September 1896, dem Vorabend der Ankunft Galliéni, hob der bisherige Generalresident Laroche die Sklaverei auf. 300’000 Sklaven in Imerina, 100’000 in Betsileo und 100’000 in übrigen Gebieten wurden frei. Damit hatte er einem wesentlichen Teil der Bevölkerung die Freiheit gewährt, gleichzeitig die ökonomische Grundlage der Merina-Oligarchie zerstört.

Am 11. Oktober 1896, dem Tag nach der Abreise von Laroche, befahl Galliéni die Verhaftung des ehemaligen Gouverneurs von Tamatave und jetzigen Innenministers Rainandriamampandry, zudem des Prinzen Ratsimamanga (ein Onkel der Königin) und Ramasindrazana, einer Tante der Königin Ranavalona III. Galliéni warf ihnen schlichtweg Komplizenschaft mit den Menalamba vor.

Auf Befehl von Galliéni wurden die beiden Männer in einem Scheinprozess am 12. Oktober zum Tode verurteilt und am 15. Oktober frühmorgens füsiliert. Laroche befand sich zu dieser Zeit noch in Tamatave. Der Prozess war unfair, die 'Beweise' auf sehr wackligen Füssen. Es ging Galliéni darum, gleich nach seiner Ankunft den starken Mann zu markieren, und ihm lag wohl auch daran, dem von ihm gehassten Laroche noch eine Lektion zu erteilen, denn die beiden Verurteilten waren Protestanten - wie Laroche - und mit ihm befreundet. Galliénis Taktik war, je einen Vertreter der Monarchie (Ratsimamanga) und der hova (Rainandriamampandry) als Warnung für beide konkurrierenden Mächte umzubringen, ebenso durften sie nicht allzu einflussreich sein, um nachhaltige Folgen zu bewirken. (Die Wahl dieser Opfer war von Gautier getroffen worden, den Galliéni gebeten hatte, ihm Namen möglicher Kandidaten zu nennen.)

Weitere Todesurteile folgten in den Tagen darauf. Ramasindrazana, die Tante der Königin, wurde ins Exil nach La Réunion geschickt.

Gemäss der beschlossenen Annexion Madagaskars schaffte Galliéni im Februar 1897 die Monarchie ab und schickte auch die 51-jährige Königin Ranavalona III am 28. Februar 1897 ins Exil nach La Réunion und dann nach Algerien, wo sie 20 Jahre später starb.

Aus Angst vor dem Entstehen eines Wallfahrtsortes für Königstreue und Traditionalisten liess Galliéni im März 1897 die Grabstätten von Andrianampoinimerina und weiterer Monarchen von Ambohimanga auf die rova nach Antananarivo verlegen.

Damit hatte Galliéni den Ton angegeben, den er bis zu seiner Abreise am 13. Mai 1905 beibehielt. Der in 16 Kolonialjahren in Indochina und im Sudan eisern gewordene 47-jährige Offizier setzte sich mit unnachgiebiger Härte gegen die Menalamba durch. Im Zuge seiner Taktik der 'tache d'huile' (Ölflecken) liess er seine Armee ein immer dichteres Netz von Militärposten erstellen, schränkte so die Bewegungsfreiheit der Menalamba zusehends ein und erstickte damit deren Aktionsradius. Diese Strategie wandte er erst in Merinaland an, dann auf dem Hochplateau, im Menabe und in Boina, schliesslich auch in den Küstengebieten. Der von Scharmützeln und hit-and-run-Angriffen gelähmte Unterwerfungskrieg dauerte Jahre. 1900 entgingen die Gebiete südlich der Linie Farafangana - Tulear noch immer der Kontrolle der französischen Militärmacht. Erst 1902 glaubte Galliéni endlich, die ganze Insel und ihre damals rund 3 Millionen Bewohner unter seiner Gewalt zu haben.

Der eiserne militärische Griff verhinderte nicht, dass immer wieder Widerstandsherde aufbrachen, so 1904/05 im Süden. Auch nach der Abreise Galliéni kam es in verschiedenen Gebieten noch öfters zu Gewaltakten gegen die koloniale Okkupationsmacht, so 1908 im Nordosten. Noch 1915 wurden zwei Militärexpeditionen gegen die Antandroy im Süden geführt. Diese hatten sich geweigert, eine Viehsteuer zu bezahlen und sich in der Bewegung der Sadiavahy organisiert.

Die 'Pacification' (Befriedung) kostete das Leben von mindestens 100’000 oder - je nach Angaben - mehreren hunderttausend Leuten. Doch erstmals in der Geschichte des Landes war Madagaskar unter einer Herrschaft vereint.

Die Phase der Pacification war begleitet von Massenwanderungen einer verängstigten Bevölkerung auf der Flucht vor den Franzosen und den Menalamba. Die Deplazierungen hielten auch in den ruhigeren Jahren danach an: Bauern suchten unbebautes Ackerland, befreite Sklaven hielten Ausschau nach einer neuen Bleibe. Tausende von ehemaligen Sklaven mussten das Dorf ihrer Herren verlassen und fanden sich plötzlich ohne Nahrung und ohne Dach. Diese Abwanderung von billigen Arbeitskräften zwang ihrerseits viele ehemalige Sklavenhalter zur Migration, weil sie ihre Ländereien ohne die Mitarbeit der Sklaven nicht mehr bebauen konnten. Viele gingen in Gegenden ausserhalb von Imerina, um rentable Cash Crops anzubauen.

Nebst der Niederschlagung des Widerstandes hatte Galliéni den Auftrag, die Dominanz der Merina zu brechen und durch eine Rassenpolitik zu ersetzen, welche die Küstenleute (côtiers) als Gegengewicht zu den Merina fördern sollte. Generell war Galliénis Ziel, alles was Merina, protestantisch und britisch-orientiert war, zu französisieren. Diese gallische Favorisierung strafte nicht nur die Madagassen, sondern auch die britischen Handelspartner, betraf auch die Amerikaner und Deutschen und galt ebenso für die nicht-katholischen Missionen.

Trotzdem mussten sich die Franzosen für ihre Kolonialadministration auf die Fähigkeiten der Merina stützen. Die protestantischen Merina, als bestgebildete Madagassen jener Zeit, arbeiteten weiterhin innerhalb der Kolonialadministration und schafften es gar, in höhere Posten aufzusteigen - soweit dies überhaupt möglich war. Zugleich bildete sich langsam innerhalb der Merina ein Bewusstsein des Widerstandes, aus dem sich die Führer der späteren antifranzösischen Bewegungen herausbildeten.

Seine harten militärischen Methoden trugen Galliéni einen blutigen Namen als Schlächter ein, sogar sein Nachfolger, Augagneur, kritisierte die Methoden seines Vorgängers 'als Irrtümer und Brutalitäten der Kolonisation.' Diese eisernen Militärmethoden Galliéni überschatteten sein Engagement für den Aufbau des Landes, denn der pickelharte Militär hatte auch unzweifelhafte Verdienste. Er war während seiner neun Jahre in Madagaskar Initiator des Baus der Eisenbahn von Tamatave nach Antananarivo, er gründete 1896 eine Medizinschule und kurz darauf ein Spital, auch die Académie Malgache (ein Forschungsinstitut für madagassische Kultur) geht auf seine Initiative zurück.

Galliéni förderte den Schulbesuch in der Grundstufe, insbesonders an der Küste, wo die Merina-Administration nur wenige Schulen geschaffen hatte. Unterrichtssprache ab der 1. Klasse in allen Schulen des Landes war französisch. Zudem galt der gleiche Unterrichtsplan wie in Frankreich. Uneigennützig war dies nicht: Galliéni sah den Schulunterricht als notwendige Investition zur späteren Rekrutierung von einheimischen Verwaltern, Angestellten und Handwerkern - im Dienste der Kolonialmacht.

Mit dem Blick auf die militärische Verwendung initiierte er auch die Erstellung einer Landeskarte im Massstab 1:500000.

Natürlich sollte Galliéni das Land für die kolonialen Bedürfnisse Frankreichs öffnen: Land für Siedler bereitstellen und den Handel mit der Metropole fördern. Zu diesem Ziel erlaubte er die steuerfreie Einfuhr von französischen Produkten, während die Erzeugnisse anderer Herstellerländer (England, USA, Deutschland) - wie bislang unter den Merina - weiterhin mit 10% des Warenwertes besteuert wurden. Grosse französische Handelshäuser installierten sich: 1897 La Lyonnaise, 1898 La Marseillaise und La Rochefortaise. Sie betrieben Import und Exportgeschäfte aller Art.

Infolge dieser Importpolitik waren 93% der 1905 eingeführten Produkte französischen Ursprungs, was, wie Galliéni in seinen Memoiren stolz vermerkt, das umgekehrte Verhältnis darstellte, das er bei seiner Ankunft angetroffen hatte. Diese französisch orientierte Favorisierung des Handels führte zu einer wesentlichen Verteuerung der Produkte, insbesonders der Stoffe.

Nachdem das Land 'befriedet' war, fanden sich landhungrige Siedler aus Frankreich und La Réunion ein. Bis zum 1. Januar 1905 waren über 400’000 Hektaren in 2385 Landkonzessionen an französische Siedler verteilt worden. Darin sind die riesige Landkonzessionen nicht enthalten, die grossen Unternehmen zugeteilt wurden, so 1,2 Mio. Hektaren an Suberbie, ebenso sind die Forstkonzessionen (235’000 ha) nicht eingerechnet.

Von 1902 bis 1944 wurden 56’333 Landtitel vergeben, die 203’5763 Hektaren repräsentieren, also 3,5% der gesamten Landesfläche.

Landkonzessionen wurden einerseits an grosse Unternehmen erteilt, aber auch an kleine Siedler. Diese, zumeist mittellosen Siedler, liessen sich vor allem an der Ostküste nieder und bauten Exportprodukte (Kaffee, Vanille und Nelken) an. Die grossen Unternehmen konzentrieren sich auf den Norden und Nordosten. Im Westen und auf dem Hochplateau gab es nur vereinzelte Siedlerkonzessionen, im Süden liessen sich grosse Unternehmen erst ab 1945 mit dem Anbau von Sisal im Flusstal des Mandrare nieder. Allen machte der Mangel an Arbeitskräften zu schaffen. So kam ihnen die Einführung eines Steuersystems durch die Kolonialmacht sehr entgegen: dies förderte das Lohnsalariat, ebenso wie es koloniale Macht demonstrierte und den Geldverkehr auf dem Binnenmarkt ankurbelte.

Der Landbesitz wurde 1926 noch stärker reglementiert, indem alles nicht bebaute und nicht registrierte Land automatisch als dem französischen Staat gehörend erklärt wurde. 1951 befanden sich 3 Millionen Hektaren Landwirtschaftsfläche und Forst unter Kontrolle von französischen Siedlern und Unternehmen. Die einst sich selbstversorgende madagassische Landwirtschaft wurde durch den Anbau von 'Kolonialwaren' (Kaffee, Pfeffer, Nelken) zunehmend den Bedürfnissen der eurozentrischen Kolonialwirtschaft angepasst.

Unter der Merina-Herrschaft war die Fronarbeit eine harte und altbekannte Pflicht. Galliéni nahm diese Methode 1896 ebenfalls auf. Jeder Mann zwischen 16 und 60 Jahren musste pro Jahr 50 Tage zu neun Stunden Zwangsarbeit  (fanompoana)  leisten - oft weit weg von seiner Heimat. Die harten Bedingungen forderten unzählige Opfer: 20% der Arbeiter starben. Die Zwangsarbeit wurde erst 1906 nach der Abreise von Galliéni auf zehn Tage reduziert. Dieser Arbeitsdienst für die Kolonialmacht wurde 1925 in Form des SMOTIG (Service de la main-d'oeuvre des travaux du contrat de travail) wieder aufgenommen, ebenso wie das System der Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkrieges wieder aktiviert wurde. Erst am 17. April 1946 wurde die Zwangsarbeit endgültig abgeschafft - unter grossem Protest der Colons.

Galliéni liess die Zwangsarbeiter aus ökonomischen und militärischen Überlegungen vor allem Strassen bauen. Überhaupt wandte Galliéni viel Aufmerksamkeit dem Bereich der Kommunikation zu. Erstmals in der Geschichte Madagaskars entstanden Strassen.

Antananarivo war als madagassische Metropole - wie das Vorbild Paris - der Ausgangspunkt von Verkehrswegen nach Mahajanga, Fianarantsoa und Tamatave. Schon 1903 verkehrte ein regelmässiger Autoservice von Antananarivo nach Tamatave. Damit wurde auch der Trägerverkehr überflüssig. Bis dahin standen noch immer tausende von Trägersklaven im Einsatz, um Waren und Personen (in Sänften) von Tamatave nach Antananarivo und in entgegengesetzter Richtung zu transportieren. (Als die Eisenbahn 1913 durchgehend offen war, sank der Preis für eine Tonne von Tamatave nach Antananarivo von 700 Francs auf 150.)

Tamatave blieb, wie unter den Merina-Monarchen, der Haupthafen und wurde durch eine Eisenbahn mit der Hauptstadt verbunden. Als Galliéni das Land im Mai 1905 verliess, war die Eisenbahn bereits auf einer Teilstrecke funktionell. Der Hafen von Diégo-Suarez sollte im Kriegsfall als Ersatz für Tamatave dienen und wurde 1900 von Colonel Joffre entsprechend ausgebaut.

Innerhalb weniger Jahre hatte General Galliéni das Merinareich zu einer französischen Kolonie umstrukturiert. Die folgenden Administratoren führten das Werk im Sinne Galliénis weiter: sie begünstigten die französischen Siedler, lagen in Konflikt mit den protestantischen Missionaren und gestanden den Madagassen nur beschränkte Rechte zu.

Im ersten Weltkrieg kämpften 41’000 madagassische Soldaten auf der Seite Frankreichs, 2368 fielen auf den Schlachtfeldern. Im Zweiten Weltkrieg waren doppelt so viele madagassische Soldaten an der Front.

Dieses Engagement der Madagassen für das 'Mutterland' bezahlte sich aber nicht aus in Form von politischen Rechten, von Emanzipation oder gar Gleichstellung mit den Franzosen. Doch im Bewusstsein der Madagassen kristallisierte sich heraus, dass sie alle aus der gleichen tanindrazana (Erde der Ahnen) stammten. Erstmals machte sich ein nationales Zusammengehörigkeitsgefühl bemerkbar.

In der Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstand ab 1912 in intellektuellen Kreisen und insbesonders unter den Schülern der Medizinschule die Geheimbewegung V.V.S.(vy, vato, sakelika: Eisen, Stein, Gabelung/Verzweigung). Der Name war symbolträchtig: Eisen als Zeichen der Härte, Stein als Sinnbild der Verbundenheit und die Gabelung als Metapher der Verästelung dieser Geheimbewegung. Die V.V.S. wurde mit Pasteur Ravelojaona bald auch von kirchlichen Kreisen unterstützt und verfolgte erst kulturelle Ziele, wurde dann aber zusehends patriotischer und somit politischer. Unter anderem verurteilten die V.V.S.-Aktivisten den Militäreinsatz von 1915 gegen die demonstrierenden Antandroy im Süden. Im Verlaufe des Jahres 1915 verbreitete sich das Gerücht eines bevorstehenden Aufstandes - angeführt von der V.V.S. Die Kolonialpolizei handelte schnell und durchgreifend: rund 500 Leute wurden 1915 verhaftet, 34 der Beteiligten wurden 1916 zu jahrelanger Zwangsarbeit verurteilt. 173 V.V.S.-Aktivisten wurden auf die Strafinsel Nosy Lava verbannt. Darunter befand sich auch der bedeutende Dichter Ramanantoanina, der sich Ny Avana (Regenbogen) nannte.

Als Grundlage des Gerichtsurteils diente den französischen Kolonialrichtern der 'code des 305 articles' von 1881, eine Gesetzesgrundlage der Merina-Monarchie und dies, obwohl Madagaskar seit 1896 französische Kolonie war. (Doch Galliéni hatte entschieden, dass diese Gesetzestexte vorläufig in Kraft bleiben sollten.)

Der spätere Nationalistenführer, Jean Ralaimongo, der im Ersten Weltkrieg auf französischer Seite an der Front kämpfte, erreichte 1924 die Amnestie der V.V.S.-Verurteilten. Der gebürtige Betsileo und Lehrer Ralaimongo stand französischen Sozialisten nahe und hatte 1922 die 'Ligue Française pour l'accession des Indigènes de Madagascar aux droits des Citoyens français' gegründet. Er gab ab 1927 in Diégo-Suarez die kritische Zeitung 'L'OPINION' heraus und verteidigte enteignete Bauern gegen Colons. Zu ihm stiess Ravoahangy, der für die Madagassen die gleichen Rechte wie für die Franzosen forderte, ebenso wie die französische Staatsbürgerschaft. (1939 besassen nur 8000 Madagassen die französische Staatsbürgerschaft.) Auch der russischstämmige Paul Dussac, seit 1922 als kleiner Siedler (petit blanc) im Land, stellte sich auf die Seite der madagassischen Nationalisten. Er publizierte ab 1928 gemeinsam mit Ralaimongo die einflussreiche, aber aufmüpfige Zeitung 'L'AURORE MALGACHE'.

Am 19. Mai 1929 formierte sich in Antananarivo eine grossangelegte Manifestation anlässlich einer Pressekonferenz von Dussac. Dreitausend Leute forderten erstmals mit dem Slogan 'Madagascar aux Malgaches' öffentlich die Unabhängigkeit. Die Ereignisse von 1929, die auch Verhaftungen und Verurteilungen nach sich zogen, markierten den Beginn des langen unbewaffneten Kampfes um die madagassische Unabhängigkeit.

Es folgten Jahre der Repression gegen opponierende Madagassen wie Jules Ranaivo, Ralaimongo, Ravoahangy, die etliche Jahre unter Hausarrest in Maintirano (Ravoahangy) und in Port-Bergé (Ralaimongo) verbringen mussten. Die Franzosen reagierten aber auch mit militärischer Repression, Entzug von Landkonzessionen, fristlosen Entlassungen und mehrjährigen Haftstrafen für weisse Aktivisten wie Dussac und die Kommunisten Edouard Planque und François Vittorio.

Diese Zwischenkriegsjahre waren aber auch gekennzeichnet durch Zwangsarbeit (SMOTIG), durch Enteignung von Landbesitz und durch wiederholte Epidemien von Grippe und Pest, die sich von 1921 bis 1936 über der ganzen Insel ausbreiteten und tausende von Todesopfern forderten. Bezeichnenderweise war der Tod eines der häufigsten Themen der madagassischen Literatur dieser Zeit.

Im Zweiten Weltkrieg stand Madagaskar unter Kontrolle der Vichy-Regierung. Viele der madagassischen Aktivisten wurden in Camps interniert.

Im März 1942 planten die Japaner die Errichtung von Basen in Madagaskar, um die Schiffe auf der Caproute zu attackieren. Dieses Vorhaben konnten ihnen offenbar die deutschen Verbündeten ausreden. (In Deutschland wurde hingegen die Möglichkeit diskutiert, überfällige Juden nach Madagaskar abzuschieben.) Am 5. Mai 1942 landeten 30’000 alliierte Streitkräfte (englische und südafrikanische Truppen) in Diégo-Suarez, wo die französische Garnison nur zwei Tage widerstand. Doch noch Ende Mai wurden zwei britische Schiffe in der Bucht von Diégo-Suarez von japanischen U-Booten torpediert. Mindestens eines der mit zwei Mann besetzten U-Boote konnte versenkt werden - und liegt heute noch in der Bucht.

Am 10. September landeten die Alliierten in Mahajanga, am 23. September 1942 befand sich Antananarivo unter alliierter Kontrolle und wurde dem Hochkommissar Legentilhomme unterstellt. Die Vichy-Anhänger verzogen sich nach Süden und ergaben sich erst am 5. November in Ihosy.

Dem Volk brachte dieser aus fernen Landen importierte Krieg viel Leid, Hungersnöte, Seuchen, hohe Preise, Steuern und erneut Fronarbeit für den Bau von Strassen, aber auch für die Ernte und den Export des kriegswichtigen Kautschuks.

Nach dem Krieg begann der Kampf um die Unabhängigkeit auf parlamentarischer Ebene. Die Franzosen gewährten den Madagassen drei Sitze in ihrem Parlament. So kamen aufgrund einer Volksabstimmung vom November 1946 die beiden Ärzte Joseph Raseta (aus Mahajanga) und Joseph Ravoahangy (Merina) und der aus Maroantsetra stammende Dichter Jacques Rabemananjara als erste Abgeordnete nach Paris. Sie hatten zu Beginn des Jahres 1946 in Paris die Partei MDRM (Mouvement Démocratique de la Rénovation Malgache) gegründet, diese Partei war praktisch der legale Arm der verbotenen Partei PANAMA (Parti Nationaliste Malgache; gegründet 1941). Ziel beider Aktionen war die Erreichung der Unabhängigkeit von Frankreich, die Aufhebung des Arbeitsdienstes (der am 17. April 1946 abgeschafft wurde), die Abschaffung der Steuern und die Umverteilung des von den Colons bewirtschafteten Landes.

Im März 1946 hatten sie ein Gesetz vorgeschlagen, das die Annexion von 1896 aufheben und aus Madagaskar einen freien und souveränen Staat innerhalb der französischen Union machen sollte.

Als Reaktion auf die erneute Dominanz der Merina und ihrer MDRM gründete der 1912 geborene Schullehrer aus der Provinz Mahajanga, Philibert Tsiranana, 1946 die PADESM (Parti des Deshérités de Madagascar), die sich der diskreten Unterstützung der Kolonialbehörde erfreute. Die PADESM setzte sich vor allem aus Küstenleuten nobler Herkunft zusammen und verstand sich als Gegenbewegung der côtiers zur MDRM und wollte die Dominanz der intellektuellen Merina brechen. Die PADESM-Politiker suchten die Frage der Unabhängigkeit hinauszuzögern, bis die côtiers genügend gebildet und organisiert waren, um den Merina Stirn bieten zu können. Die PADESM fand vor allem in den Küstenregionen schnell viele Anhänger.

In den Provinzwahlen von Januar 1947 gewann jedoch die MDRM 67 Sitze gegenüber der PADESM mit ihren 25 Sitzen.

1946 weigerten sich die Tanala und die Bezanozano, die Steuern zu bezahlen. Diese Aktion bildete den Ausgangspunkt zur blutigsten Auseinandersetzung zwischen Kolonialmacht und Kolonie.

In der Nacht vom 29. auf den 30. März 1947 brach an der Ostküste - insbesonders in der Region um Moramanga - ein gutvorbereiteter Aufstand gegen die Kolonialmacht aus, der zwar sofort auf andere Landesteile übergriff, sich aber hauptsächlich an der Ostküste abspielte. Die Franzosen reagierten schnell: Am 30. März trat auf der ganzen Insel ein Ausnahmezustand in Kraft. Die MDRM wurde verboten und ihre Führer verhaftet. Die madagassischen Abgeordneten (Ravoahangy und Rabemananjara) wurden 1948 trotz ihrer diplomatischen Immunität zum Tode verurteilt, dann aber zu lebenslanger Haft in Exil begnadigt. (Erst 1956 wurden sie amnestiert.)

Die französische Armee mit ihren senegalesischen Soldaten und die stationierten Fremdenlegionäre brauchten fast zwei Jahre, um diese Bewegung gewaltsam und äusserst brutal zu unterdrücken. Die 18’000 französischen Militärs begingen Brutalitäten und Einschüchterungen auch unter der Zivilbevölkerung, so wurden in Mananjary Leute lebend aus einem Flugzeug auf ihr Dorf abgeworfen. Zehntausende von Menschen starben in barbarischen Massakern, die noch heute tief im Gedächtnis der Madagassen verankert sind. Die offizielle Bilanz der französischen Armee sprach von 89’000 Toten. Die Haupttragik des Aufstandes spielte sich an der Ostküste ab.

Am 1. Dezember 1948 war die Revolte oder der Befreiungskrieg - je nach Gesichtspunkt - gebrochen. Es dauerte mehrere Jahre, bis die in Frankreich inhaftierten madagassischen Politiker aus den Gefängnissen entlassen wurden. Doch nach Madagaskar durften sie erst 1960 - dreizehn Jahre nach dem Aufstand.

Die Franzosen interpretierten diese Ereignisse von 1947 als von extremen Kreisen der Merina-MDRM gesteuerte antifranzösische Aktion und wandten sich fortan gezielt von den Merina ab. Küstenleute wurden favorisiert, so erstaunt es nicht, dass der erste Präsident Tsiranana von der Küste stammte. Die Merina behielten zwar ihre oft hohen Posten, doch ihre politische Macht war gebrochen - bis heute. (Noch heute machen sich Bewegungen bemerkbar, die von der gloriosen Merina-Vergangenheit träumen und von einer Rückkehr der Merina-Herrschaft. In den frühen 1990er Jahre trafen sich hohe Merina Politiker, so Mitglieder der einflussreichen Familie Ramahatra, auf den 12 Heiligen Hügeln von Imerina, um die Zukunft des Landes zu besprechen.)

1956 erlaubte Frankreich ein generelles Stimmrecht. Es entstanden viele Parteien, die oft die Kluft zwischen Hochland und Küste, zwischen Katholiken und Protestanten spiegelten.

1956 gründete Philibert Tsiranana (ex-PADESM) und andere die PSD (Parti Social-Démocrate), die sich vor allem aus côtiers zusammensetzte und wie schon die PADESM auf ein wohlwollendes Verhalten der Franzosen stiess. Im gleichen Jahr gründete Norbert Zafimahova die UDSM (Union des Démocrates Sociaux de Madagascar).

1958 wurde in Antananarivo die christlich-marxistische AKFM (Antoko'Ny Kongresi'Ny Fahaleovantenan'I Madagasikara; Kongresspartei für die Unabhängigkeit Madagaskars) vom protestantischen Pastor und Bürgermeister von Antananarivo Richard Andriamanjato (geboren 1930 in Antananarivo) gegründet, die sich offensiv an die Sowjetunion anlehnte. Die AKFM kann als radikalere Nachfolgeorganisation der (Merina-dominierten) MDRM betrachtet werden. Sie stützte sich vor allem auf die städtische Schicht und kaum auf die rurale Bevölkerung. Ebenso wurde im Süden 1958 die MONIMA (Madagasikara Otrinin'Ny Malagasy; Nationale Bewegung für die Unabhängigkeit Madagaskars) von Monja Jaona gegründet, die sich für den vernachlässigten, ruralen Süden einsetzte. Der 1910 in Amboasary (Provinz Tulear) geborene Monja Jaona wurde ein Jahr darauf (1959) Bürgermeister von Tulear.

Diese Parteigründungen sind im Vorfeld der Unabhängigkeit oder jedenfalls Autonomie innerhalb der französischen Union zu verstehen, die während des Besuchs von Général de Gaulle 1958 in erreichbare Nähe gerückt war. Im gleichen Jahr 1958 wurde französisch als die einzige Unterrichtssprache in Madagaskar erklärt.

Am 1. Mai 1959 wurde der Sozialdemokrat Philibert Tsiranana als Präsident der Republik Madagaskar gewählt und ernannte sein erstes Kabinett, das sich aus Mitgliedern der PSD und UDSM zusammensetzte, die zusammen 104 Sitze  erhielten.

Diese erste madagassische Regierung führte das Land in einem sanften Übergang von der Kolonialabhängigkeit zur vollen Unabhängigkeit der madagassischen Republik.

65 Jahre nach der Zerstörung des Merinareiches wurde Madagaskar am 26. Juni1960 nach 64 Jahren unter französischer Kolonialherrschaft ein souveräner Staat unter dem ersten Präsidenten Philibert Tsiranana.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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