PRIORI

PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Reis

Der Reis nimmt in Madagaskar als Nahrungsmittel und als Kulturelement eine überragende Rolle ein. Im Jahresdurchschnitt besteht zwischen 55 und 65% der Nahrung aus Reis.  Maniok steht an zweiter Stelle, wird jedoch als Nahrung der Armen verachtet. Mais und Weizen spielen nur eine geringe Rolle.

Der Reis ist heute nicht nur das wichtigste Nahrungsmittel, sondern er nimmt auch im ganzen kulturellen Kontext eine Sonderstellung ein. Das madagassische Lebensgefühl hängt mit dem Reis zusammen: satt (voky) fühlt sich nur, wer Reis gegessen hat. Von Kartoffeln oder Mais kann ein Madagasse nie voky werden.

Reis ist keine endogene Pflanze,  er wurde eingeführt und zwar womöglich schon von den ersten Einwanderern aus Indonesien.

Folgende Beobachtungen stützen diese These. Im Nordwesten Madagaskars zwischen Mahajanga und Diégo-Suarez - und nur dort - wird seit alters her eine Reisart vom Typ indica gepflanzt, kiriminy genannt, der sehr grosse Parallelen mit dem Reis in Bali und in Vietnam aufweist.  Und in dieser Gegend, so nimmt man heute an, landeten die ersten Einwanderer vor vielleicht 1500 Jahren. Eine dem kiriminy verwandte Sorte findet sich in Nordost-Madagaskar, in jener Region also, in der sich weitere Einwanderer niederliessen.  Dort gibt es heute noch eine Reissorte, die den Namen 'Java' trägt.

Die erhaltenen Dokumente der europäischen Seefahrer erwähnen schon ab 1510 die Existenz von Reis in Madagaskar. In diesen Berichten wird immer wieder betont, dass sich die Einwohner von Reis ernähren.

François Martin, der für die französische Siedlung von Fort-Dauphin entlang der Ostküste Reis aufkaufte, gab im 17. Jahrhundert als erster genauere Informationen über den madagassischen Reisanbau. Danach betrieben die Bewohner Brandrodungsfeldbau. Sie zündeten ein Waldstück an, bohrten mit einem Grabstock Löcher in den Boden und warfen Reiskörner hinein. Das Loch wurde danach mit dem Fuss zugeschüttet.

Etienne de Flacourt, von 1648 bis 1658 Gouverneur in Fort-Dauphin, beschrieb hingegen die direkte Aussaat der Körner in Sümpfe, die vorher durch Rinder weichgetrampelt worden waren.  Laut Flacourt konzentrierte sich der Reisanbau hauptsächlich auf die Ostküste, während der trockene Süden und der Westen eher Viehzuchtgebiet waren. 

Damit wurden schon im 17. Jahrhundert die zwei heute noch gebräuchlichen Produktionsmethoden beschrieben: Anbau von Bergreis (tavy) und von Nassreis (horaka).

Laut Flacourt und Martin wurden Brandrodung und die Arbeit mit den Rindern von Männern erledigt, während die Frauen Aussaat und Ernte besorgten. Diese Arbeitsteilung hat sich bis heute erhalten.

In welcher Art der Reis auf dem Hochland gepflanzt wurde, ist kaum bekannt. François Martin erwähnte in seinem Reisebericht von 1667, dass in der Gegend um den Lac Alaotra Wasserkanäle zu den Reisfeldern führten.  In seiner Beschreibung von Antananarivo berichtete Mayeur im 18. Jahrhundert von einer anderen Methode. Demnach wurden die Reissetzlinge (ketsa)  erst in einem Anziehfeld belassen und dann als fusshohes Gras in die Reisfelder umgepflanzt (repiquiert). Auch dies eine Arbeit der Frauen. Diese Beobachtungen wurden durch spätere Reisende bestätigt.

Hingegen ist nicht bekannt, dass auch in den Küstenregionen Bewässerungskanäle oder die Methode der Repiquage benutzt wurde.

Die Frage, wie diese höherentwickelten Methoden der Bewässerung entstanden sind, ist ungeklärt. Gelang es der Macht und Entschlossenheit eines Königs, neue und intensivere Anbaumethoden zu finden? Dies wäre in Merinaland denkbar gewesen, doch mit der geringen Ausstrahlung der damaligen Kleinkönigreiche kaum erklärbar.

Oder aber führte der Bevölkerungsdruck zur Suche nach ertragshöheren Methoden? Der Reisende Leguevel de Lacombe, der Madagaskar von 1823 bis 1830 bereiste, schätzte die Grösse von Antananarivo auf 3000 Häuser,  was etwa 20’000 Bewohnern entsprochen haben mag.  Mussten also effizientere Anbaumethoden gefunden werden, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren?

Oder aber stammen die Hochlandbewohner nun doch von einer weiteren Einwanderungswelle ab, die eine weiterentwickeltere Bewässerungstechnologie mit sich brachte? Diese These deckt sich mit jener, die von zwei Einwanderungswellen spricht. Danach war die zweite jene der Merina und der Betsileo mit einem höheren Organisationsgrad,  kollektiver Arbeitsleistung und der Kenntnis von Bewässerungstechniken.  Die Pflanztechnik und auch den Namen für den Reis (vary) hätten sie demnach - womöglich - von Südindien mitgebracht.

Mit dem Erscheinen der europäischen Seefahrer im 16. Jahrhundert und vermehrt im 17. Jahrhundert und ihrem Bedürfnis nach Nahrungsmitteln wurde der Reis in einigen Küstenregionen zum gesuchten Tauschobjekt. Holländer, Franzosen, Engländer und für einige Zeit auch die Portugiesen ankerten vor Ste. Marie, in der Bucht von Antongil, vor Nosy Be und im Delta des Flusses Mahajamba,  um Reis (und Rinder und Sklaven) gegen Stoffe, Gewehre, Schiesspulver und Glasperlen zu tauschen.

Nicht immer waren sich die Seeleute und die einheimischen Verkäufer über das Tauschverhältnis einig. So war der anfangs attraktive Markt für Glasperlen bald gesättigt, denn, wie der holländische Gouverneur von Mauritius, Jan van der Meersch, 1646 feststellte, nutzen sich die Glasperlen nicht ab. So waren sie bald weniger gefragt, hingegen erfreuten sich Gewehre, Schiesspulver und Wolldecken einer kaum zu stillenden Nachfrage.

1780 war der Reishandel dank der unverminderten Nachfrage bereits gut organisiert. Die Siedler auf Ile de France (Mauritius) und Bourbon (La Réunion) waren auf die überlebenswichtigen Reislieferungen aus Madagaskar angewiesen. Die wichtigsten Verladehäfen waren Ste. Marie, Foulpointe und Antongil, wobei Foulpointe der bedeutendste Hafen war.  Dort war der Reis auch billiger zu haben als im Westen, wo eher Sklaven und Rinder getauscht wurden.

Auf dem Hochland existierten dank kollektiver Urbarmachung von Sümpfen grosse Reisgegenden und sogar Überschussgebiete in der Gegend um Antananarivo, in Vakinankaratra und in Betsileoland.  Der herausragende Merina-König Andrianampoinimerina förderte energisch den Anbau des Reises, von ihm stammt der Ausspruch: 'Der Reis und ich sind eins.'  Damit gab er dem Reis eine sakrale Bedeutung.

Er forcierte den Reisanbau auch durch die Anordnung von kollektiven Arbeiten an Kanälen und Dämmen und durch eine Steuerabgabe in Form von Reis. Dieser ökonomische Dirigismus führte dazu, dass in Merinaland in normalen Jahren genug Reis vorhanden war. Der Überschuss ernährte die Metropole Antananarivo und ein stehendes Heer, das die Grenzen von Imerina immer weiter ausdehnte. Ein Export zu den Häfen war aufgrund der schlechten Verkehrswege nicht möglich.

Anders in Betsileoland, dort wurden vor allem Knollenfrüchte (Maniok) gegessen, während der Reis vorwiegend exportiert wurde.

Mit Radama I, der 1817 und 1820 mit den Engländern einen Vertrag zur Abschaffung des Sklavenhandels unterzeichnete und gleichzeitig eine aktive Expansionspolitik betrieb, begann die Ausdehnung des Reisbaus durch die militärischen Stützpunkte. Die Merina-Garnisonen mit oft mehreren hundert Soldaten mussten sich selber ernähren, daher pflanzten die Soldaten im Umkreis ihrer Festungen unter anderem auch Reis an. So fand der Reis als Kulturgut der Merina-Okkupanten allmählich auch Eingang in die Anbau- und Essgewohnheiten anderer Völker. Die Kontrolle weiter Gebiete durch die Merina und die erhöhte Sicherheit führte auch zu Migrationen aus den dichter besiedelten Gebieten des Hochlandes in Gegenden mit mehr Landreserven. Die Migranten förderten die weitere Verbreitung des Reisanbaus.

Ste. Marie, französisch seit dem Vertrag mit Betia 1750, hatte als Reislieferant zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Bedeutung mehr. Erst die Einführung der Gewürznelken durch französische und kreolische Colons verhalf der Insel wieder zu einem Aufschwung.

Die Häfen der Westküste hatten im 18. Jahrhundert als Reislieferanten noch eine gewisse Rolle gespielt, verloren sie jedoch im 19. Jahrhundert, hielten aber die Position als wichtige Rinderlieferanten und illegale Sklavenexporteure. Nur Nosy Be behauptete sich als Reislieferant.

Die Hafenstadt Tamatave hatte durch die Merina-Monarchen an Bedeutung gewonnen und exportierte in den 1840er Jahren 2000 bis 3000 Tonnen Reis pro Jahr, Foulpointe und Fort-Dauphin je nur noch etwa 150 Tonnen. Ste. Marie keinen mehr. Nosy Be exportierte um die 500 Tonnen.  Die grossen Produktionszentren auf dem Hochplateau blieben mangels Transportmöglichkeiten weiterhin vom Export ausgeschlossen.

Mit dem Einmarsch der Franzosen 1895 und der Annexion von 1896 änderte sich die Organisation der madagassischen Landwirtschaft. Beträchtliche Landkonzessionen wurden den Colons aus Frankreich und La Réunion zugestanden, die nicht nur Vanille und Zuckerrohr anpflanzten, sondern auch grosse Ebenen mit Reis (Mahabo, Marovoay, Lac Alaotra).

Parallel zur Niederlassung der Colons fand eine erneute interne Migration statt, vor allem Richtung Westen. Diese Wanderungen trugen einmal mehr zur Verbreitung des Reises bei. Für viele Leute im 'brousse' (im Busch; umgangssprachlich für rurale Gebiete) bildeten Knollenfrüchte nach wie vor die Hauptnahrung. Noch 1930 ernährten sich die Antandroy im wesentlichen von Hirse. Reis blieb für sie ein Luxusprodukt.

1905 waren 300’000 Hektaren mit Reis bepflanzt und ergaben 400’000 Tonnen Ertrag, 1951 wurden 700’000 ha bewirtschaftet und warfen eine Million Tonnen Reis ab.  Die Produktion nahm zwischen 1948 und 1959 um 400’000 Tonnen zu dank der gezielten Propagierung des Reisanbaus in Linie gegenüber der freien Aussaat.  Diese Methode bringt 200kg/ha mehr ein. Der Gebrauch von Dünger erhöht die Produktion um weitere 300 bis 900 kg/ha.  Jäten bringt weitere 200 kg/ha. Durch diese Techniken könnten 3000 kg/ha  ungeschälter Reis (Paddy) geerntet werden, statt wie noch heute üblich ein Drittel oder die Hälfte davon.

In den 1960er Jahren stagnierte die Reisproduktion um 1,2 Mio Paddy.  1965 musste Madagaskar sogar 100’000 Tonnen Reis importieren.

Madagaskar war während Jahrhunderten ein Exportland von Reis. Heute wird nur noch der Luxusreis bester Qualität (vary lava) exportiert, jener, der auch in Carolina (USA) zu finden ist.  Womöglich stammt der Reis in Carolina aus Madagaskar, denn in einem Bericht von 1699 steht, dass ein Kapitän Reiskörner einem Mr. Woodward übergab, der sie mit grossem Erfolg in den Sümpfen um Charleston pflanzte, worauf der Reis in der ganzen Provinz Verbreitung und später Weltruhm fand.

Der grösste Teil der Ernte wird von den Bauern selbst konsumiert. Durch die verschlechterte Wirtschaftslage in den 1980er Jahren sahen sich immer mehr Bauern genötigt, nicht nur den Überschuss zu verkaufen, sondern auch einen Teil ihrer eigenen Jahresration. Bis 1974 wurde der Aufkauf von Reis durch grosse Firmen besorgt, die den Bauern auch Kredite vergaben und Industriewaren verkauften. Ab 1974 bis 1983 übernahm der Staat per Dekret  das Reismonopol als Aufkäufer und Verteiler durch die Nationalisierung dieser Firmen und der Schaffung des Monopolunternehmens SINPA. Zudem wurde der Reispreis künstlich nieder gehalten, um die Löhne in den Städten ebenfalls niedrig halten zu können.  Doch das System war ineffizient, die Reisproduktion sackte ab, ein blühender Schwarzmarkt etablierte sich sehr bald. Die Bauern zogen sich mangels Anreiz in eine zunehmende Subsistenz zurück. 1983 wurde der Handel mit Paddy liberalisiert  und 1986 das Monopol der Staatsfirma SINPA aufgehoben.   Die Reishändler wurden angehalten, den Bauern einen Mindestpreis von 90 FMG/kg zu bezahlen. Zugleich wurde ab 1986 die Politik des 'stock-tampon' (Pufferlager) lanciert, um massive Verteuerungen und allzu grosse Schwankungen des Reispreises abzufedern.  Die staatlichen und vom Ausland finanzierten Reislager sollten steigende Preise abfangen und Spekulationen verhindern. Diese Initiative fand bei den - städtischen - Konsumenten zwar Anklang,  doch die Reisspekulanten sahen sich in ihren Aktivitäten gehindert. Zudem stiess die Marktspaltung auf erhebliche Probleme, vor allem logistischer Art.

Obwohl der Reis die Hauptproduktion der madagassischen Bauern darstellt, wurde Madagaskar in starkem Mass ab 1978 zum Reisimporteur, 1982 wurde ein Rekord von 342’000   Tonnen importiert, was damals 15% des totalen Reisbedarfs und 13% der verfügbaren Menge an Grundnahrungsmitteln  und 20% der Importausgaben entsprach.  Nach 1982 nahmen die Reisimporte wieder ab: 1986 waren es 162’000 Tonnen, 1988 nur noch 36’000 Tonnen  und 1989 wieder 73’000 Tonnen.

1992 wurden 2,45 Mio. Tonnen Paddy geerntet, was 1,48 Mio. Tonnen geschälten Reis ergab. Damit war Madagaskar - theoretisch jedenfalls - gerade eben Selbstversorger.  Doch die jährliche Bevölkerungszunahme von um die 350’000 Menschen verlangt eine Produktionserweiterung von 70’000 Tonnen pro Jahr, also um die 35’000 ha mehr Reisland.

Die Liberalisierung des Aussenhandels (Import und Export) konfrontiert Madagaskar mit einer heiklen Frage: einerseits möchte man die Reisbauern zu mehr Produktion animieren, das heisst einen höheren Preis bezahlen, andererseits sollen Zollschranken nicht einen künstlich hochgehaltenen Reispreis subventionieren. Der Liberalismus der Weltbank steht gegen den Protektionismus zum Wohle der Bauern - und der Händler. Durch genügende Marktanreize sind die Bauern durchaus gewillt, mehr zu produzieren, doch sie sind international nicht konkurrenzfähig. Der aus Thailand und Vietnam stammende Importreis wird billiger nach Antananarivo geliefert als der Reis aus dem nur 280 Strassenkilometer entfernten Überschussgebiet des Lac Alaotra.

So dient der Reis vor allem dem Eigenkonsum der Bauern, nur 4% bis 12% der Reisproduktion wird vermarktet.  Die Bauern haben keinen Anreiz, mehr als nur ihr Subsistenzniveau abzudecken. Man schätzt, dass der Reis allein 40 - 50% des landwirtschaftlichen BIP ausmacht.

Das grosse Problem liegt im geringen Hektarertrag der madagassischen Reisfelder. Die Gründe dazu sind vielfältig. Zum einen sind die Bauern infolge der niedrigen Preise und der grossen Evakuierungsprobleme in etlichen Gebieten ohne Strasse kaum zu höheren Erträgen und somit zu Mehrarbeit motiviert. Zudem sind viele Reisenklaven von wenigen Händlern abhängig, die den Preis schamlos diktieren. Unzählige Bauern sind bei 'ihrem' Reishändler stark verschuldet. Zudem verkauft der Grossteil der Bauern den Reis unmittelbar nach der Ernte, um - einmal im Jahr - zu etwas Bargeld zu kommen. Bäuerliche Genossenschaften zur Selbstvermarktung der Produkte finden sich selten und nur im Ansatz, obwohl durch diese Eigeninitiative die Monopolstellung der Zwischenhändler umgangen werden könnte.  Ebenso sind Getreidespeicher unter eigener Dorfverwaltung selten, obwohl sie vor der neuen Ernte eine Überbrückungshilfe bieten und gar neues Saatgut liefern könnten. So sind die Bauern in der 'période de soudure' (der Nahtstelle zwischen dem Ende des Reisvorrats und dem Einbringen der neuen Ernte) weiterhin gezwungen, Reis zu einem viel höheren Preis zu kaufen: als Nahrung für sich und oft gar auch als Saatgut. Auch heute noch ist für viele Bauern die Zeit des Hungers vor der neuen Ernte eine bittere, jährliche Realität. In ihrer Not ernten sie oft schon den noch unreifen Reis.

In Madagaskar existieren weiterhin die beiden Methoden des Nassreisanbaus und des Bergreisanbaus durch Brandrodungsfeldbau (tavy). Der tavy ist an sich verboten, weil er ökologisch nur schwer reparierbare Schäden (Erosion und Zerstörung des Waldbestandes) hinterlässt. Zudem müssen die schnell erschöpften Felder alle paar Jahre gewechselt werden. Der vor allem an der Ostküste  praktizierte tavy bringt nur den mageren Ertrag von 800 kg pro Hektare.  (Aufgrund von tavy verschwinden dagegen jedes Jahr 300’000 Hektaren Wald.)

Der Nassreisanbau wirft einen höheren Ertrag ab, verlangt aber einen grösseren Arbeitsaufwand, besonders wenn er, wie in Betsileoland, auf kleinen Reisterrassen betrieben wird.  (Die Reisterrassen der Betsileo sind zuweilen nur gerade einen Fuss breit. Dies ist als Zeichen von knappem Land zu bewerten.)  Zudem muss der Wasserhaushalt der Felder genau abgestimmt und laufend kontrolliert werden. Um ein Kilo Reis zu erhalten, sind 2000 Liter Wasser notwendig.  Auch hier liegt der madagassische Bauer weit über den Normen anderer Länder.

Die Felder werden im September/Oktober vor dem Beginn der ersten Regen vorbereitet. (Der Pflanzkalender variiert um mehrere Wochen je nach Gegend und Höhenlage.) Man sticht die Erde um und lässt sie durch Zeburinder weichtrampeln. Dann werden die Reiskörner ausgesät: entweder direkt aufs Feld (archaische Methode) oder in sehr enger Folge in Anziehbeeten (ketsa)  eines Pflanzgartens, der meist üblichen Methode. Die Jungpflanzen der Anziehbeete werden nach 30 bis 40 Tagen, wenn sie etwa fusshoch sind, repiquiert, also auf die eigentlichen Reisfelder verpflanzt, meist in beliebiger Anordnung oder - als bessere Methode - in Linien, um das Jäten der Unkräuter zu erleichtern. Der Reis muss, um genug Zeit zum Wachsen zu haben, bis Dezember gesetzt sein. Im April/Mai kann geerntet werden. Die Halme werden mit Sicheln geschnitten und zum Trocknen ausgelegt. Auf dem Dreschplatz werden die Ähren von Hand über einen Stein geschlagen - oder es werden Rinder über die ausgebreiteten Ähren gejagt.  Die Reiskörner werden im Erdgeschoss des Hauses gelagert, oft in einer kellerartigen Vertiefung, dem Reisloch. Vor dem Konsum werden die Hülsen von den Reiskörnern (Paddy) getrennt: Madagassen lieben den 'vary fotsy' (weissen Reis) über alles, obwohl durch die Abtrennung der vitaminreichen Aussenhaut ein wesentlicher Teil des Nährwerts verloren geht.

Ein Kilo Paddy (ungeschälter Reis, also das Reiskorn mit Hülse) ergibt im Durchschnitt 660 Gramm geschälten Reis. Diese Ausbeute von 66% hängt jedoch von der Feineinstellung der Enthülsungsmaschine ab, falls maschinell gearbeitet wird.

Meist teilen mehrere Bauern eine Quelle oder einen Bach und müssen sich daher für ein koordiniertes Vorgehen in der Wasserzufuhr absprechen. Da die Reisterrassen und der Wasserlauf meist auf ein kleines Tal limitiert sind, gelingt diese gemeinsame Verwaltung des Wassers zumeist problemlos. Schwieriger gestalten sich Verwaltung und Unterhalt von grösseren Bewässerungssystemen.

Das Landwirtschaftsministerium unterscheidet drei Arten von bewässerten Reisfeldern: die 'micro périmètres' (MP) haben eine Fläche von weniger als 5 ha; die 'petits périmètres' (PM) sind Flächen von 100 bis 200 ha und  die 'moyens und grands périmètres' (MGP) weisen 1500 bis 30’000 ha auf. Von den 570’000 ha bewässerten Reisfeldern Madagaskars machen die MP total 350’000 ha (61%) aus, die PP 60’000 (11%) und die MGP 160’000 ha (28%).  Diese Zahlen zeigen die vornehmlich kleinbäuerliche Struktur des Reisanbaus.

Grosse Perimeter finden sich in der Region um den Lac Alaotra mit 70’000 ha  und in der Nähe von Mahajanga mit 17’000 ha (FIFABE). Diese Überschussgebiete beliefern vor allem die städtische Bevölkerung mit Reis.  (Die Region des Lac Alaotra weist eine landwirtschaftliche Potenz von 700’000 Hektaren auf, wovon 100’000 ha für den Reisanbau irrigierbar wären, aber nur zu einem Teil effektiv genutzt werden.)

Die nationale Reisproduktion schwankt zwischen 2 bis 2,5 Mio Tonnen pro Jahr,   damit steht Madagaskar an 15. Stelle der reisproduzierenden Länder. Trotzdem muss Reis  im Wert von 10 - 20 % der totalen Importe eingeführt werden.

Der Hektarertrag ist gering: ein traditioneller Bauer erwirtschaftet eine bis zwei Tonnen Reis pro Hektar, der Landesdurchschnitt beträgt 1,84 t/ha    und liegt damit unter dem durchschnittlichen Ertrag der asiatischen Reisbauern.  Die Reisproduktion des madagassischen Bauern ist arbeitsintensiv und weist hohe Produktionskosten auf, die oft ebenso hoch sind wie der erzielte Verkaufspreis, manchmal gar höher.  Auch auf dem Hochplateau braucht ein Bauer trotz des günstigen Klimas 300 Manntage, um 2050 kg/ha Reis zu erhalten.  Diese beträchtlichen Arbeitsleistungen verlangen oft die Zuhilfenahme von Taglöhnern.

Die Anbaumethode ist noch weitgehend archaisch:  der Stichspaten (angady) verlangt eine grosse Arbeitsleistung ebenso wie das Weichtrampeln der Erde mit Rindern.  Das freie Aussäen des Reises vermindert den Ertrag. Düngung findet nicht statt. Reis wird nach wie vor in Monokultur angebaut. Dies laugt den Boden aus, ohne ihm neue Nährstoffe zuzuführen.

Das Einführen von Pflügen (opération charrue) war nicht erfolgreich, dies zum Teil auch, weil die Pflüge für die Verhältnisse der Bauern zu teuer sind. (1986 waren zwar viermal mehr Pflüge im Einsatz als 1970.)  Ebenso gelangt die Methode des Setzens der Reisschösslinge in Reihen und das Entfernen der Unkräuter zwischen den Reihen nur schwerlich zum Durchbruch.

Auf der im Umlauf stehenden Zehntausender-Banknote, der bis November 1992 grössten Stückelung des madagassischen Papiergeldes, ist auch heute noch eine Reisszene abgebildet, die Frauen beim Repiquieren zeigt. Dass diese mühsame Arbeit von Frauen ausgeführt wird, stimmt. Aber die gebückten Frauen stossen die fusshohen Reisschösslinge in beliebiger Anordnung in den unter Wasser stehenden Boden. Es ist anzunehmen, dass jeder Bauer mindestens einmal im Jahr eine 10’000er-Note (Wert 2002: rund 2,5 sFr / weniger als 2 Euro) in die Hände kriegt und den grünen Geldschein auch betrachtet: die Gravur wirkt nicht gerade im Sinne einer Propagierung für den ertragshöheren Anbau in Reihen. Auch in der direkten Umgebung von Antananarivo wird in einzelnen Dörfern heute noch die Direktaussaat betrieben.

Die Reisernte geschieht mit der Sichel. Ein Verlust von bis zu 20% entsteht während der Ernte und dem Transport, beim Dreschen und Trocknen.

Die Methode des Fruchtwechsels in Gegensaison, der Anbau von anderen Produkten (vor allem Leguminosen) während der Brachezeit für Reis, wird noch eher zögernd und nur in wenigen Gegenden betrieben. Einzig in der Region Antsirabe wurde mit Getreide als Gegensaison zu Reis einiger Erfolg erzielt.

Die Landwirtschaft und insbesonders der Reisanbau ist kaum mechanisiert. Nur in der Region des Lac Alaotra, der mit 70’000 ha Reisfeldern  ein traditionelles, aber gefährdetes Überschussgebiet darstellt, ist eine mechanische Anbaumethode verbreitet. Dort werden auch Erträge von 2,2 bis 3 t/ha erreicht.  In den meisten anderen Gebieten liegen die Erträge wesentlich darunter. Ein Einflussfaktor stellt auch die oft mindere Qualität des Saatgutes dar. Die vier staatlichen Zentren schaffen es nicht, genügend qualitativ hochstehendes Saatgut zu produzieren.  Sie stellen im Jahr 1500 Tonnen Saatgut bereit: der Bedarf liegt jedoch um die 100’000 Tonnen.  Zudem kamen die Forschungen für ertragshöhere Reisarten in den 1980er Jahren praktisch zum Stillstand.

Zwei Ernten pro Jahr sind nur in wenigen Gegenden möglich, so in der 20’000 ha  grossen Ebene Betsimitatatra um Antananarivo: der Reis der ersten Saison (vary hosy; vary aloha)  und der Reis der zweiten Saison (vary vakiambiaty ).

Mit einem jährlichen Konsum von etwas über zwei Millionen Tonnen Reis  gehören die über elf Millionen Madagassen - nach Birma  - zu den grössten Reisessern pro Kopf der Erde.  Pro Jahr verbraucht eine Familie mit acht Kindern 1650 kg weissen Reis, was im kleinbäuerlichen Rahmen dem Ertrag von 1,5 ha Reisfeldern entspricht.

Eine Person isst im Jahr 130 kg bis 180 kg geschälten Reis,  das heisst 350 bis 500 Gramm pro Tag.  1989 standen - rein rechnerisch - pro Person 131 kg Reis zur Verfügung.  

Die UNO-Organisationen rechnen mit einer Tagesration von 400 Gramm  als Minimalbedarf pro Person. Auf ein Jahr umgerechnet ergeben sich somit 146 Kilo beziehungsweise 221 Kilo Paddy (ungeschälter Reis). Diese Menge müsste ein Bauer ernten (plus 5% als Rücklage für das Saatgut der kommenden Saison), also 232 Kilo Paddy.

Eine Studie in Antananarivo zeigte 1993 jedoch, dass ein durchschnittlicher städtischer Haushalt mit 6,5 Personen den Reisbedarf nicht decken kann. Pro Person stehen lediglich 108 kg Reis pro Jahr zur Verfügung. 31% des Familieneinkommens wird dafür aufgewendet.

Ein 'durchschnittlicher' Bauer hat 1,2 ha Reisfelder zur Verfügung und erwirtschaftet darauf mit traditionellen Methoden nur wenig mehr als 1200 kg Paddy, was fünf bis sechs Personen während eines Jahres ernährt. Jedes Familienmitglied mehr und jede Ernteverminderung bedeutet zwangsläufig Hunger und Not.

Reis dominiert die Landwirtschaftsflächen, insbesonders auf dem Hochland. In allen Provinzen wird auf über 60% der landwirtschaftlichen Fläche  Reis gepflanzt, nur in Tulear machen die Reisfelder 41% aus.    Doch insgesamt sind nur um die 2% der Gesamtfläche Madagaskars mit Reis bepflanzt.

Das ganze Leben der Madagassen dreht sich um das Reiskorn. Reis ist ein kulturelles Objekt von mythischer Bedeutung. Unzählige Sprichwörter nehmen darauf Bezug. Und sehr viele Tabu (fady) sind im Umgang mit dem Reis zu beachten.

Der traditionelle Kalender war entsprechend den Phasen des Reiswachstums unterteilt.  In früheren Zeiten wurde die Länge eines Weges mit der Anzahl Reistöpfe angegeben, die während dieser Zeit nacheinander zum kochen gebracht werden können,  wobei 'ein Reis kochen' etwa einer halben Stunde entspricht.

Der Reis wird vollständig gar gekocht, pappig und weich soll er sein. Dann wird zu der durch das Anbrennen im Topf entstandenen Kruste (ampango)  etwas Wasser zugeschüttet und erneut aufgekocht. Daraus entsteht ranovola: das etwas rauchig schmeckende Reiswasser wird bei jeder Mahlzeit getrunken.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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