Vieh
Nebst
Reis nehmen in Madagaskar auch Rinder einen wichtigen
Stellenwert ein, auch sie haben einen sakralen Wert und
symbolisieren Kraft und Einheit. Stilisierte Kuhhörner und
Zebuköpfe finden sich in den Wappen mehrerer Provinzen,
ebenso auf Briefmarken und Geldstücken. Kuhhörner zieren
Grabstätten und Erinnerungsstelen, Rinder sind ein
beliebtes Motiv in der plastischen Kunst.
Das
madagassische Rind (omby) ist vom Typ bos taurus indicus mit
einem klumpigen Fetthügel auf dem Nacken. Diese widerstandsfähigen
Zebu von einer Schulterhöhe um die 130 cm erreichen nach
etwa sechs Jahren ein Gewicht von 300 bis 400 kg, etwa die Hälfte
davon ist Fleisch. Durch Mästung können die Rinder bis
das doppelte Gewicht erreichen. Ihre Hörner streben weit
ausladend vom Schädel weg, erreichen aber nicht die
Dimensionen der ostafrikanischen Rinder.
Der
allergrösste Teil (99%) der madagassischen Rinder sind
Zebu, später eingeführte Rassen haben nur eine minime
Verbreitung gefunden. Europäische Rinder (omby rana) ohne
Fetthöcker wurden von den Colons zu verschiedenen Zeiten
eingeführt, um eine bessere Fleischqualität zu erreichen.
Sie sind insbesonders in der kühlen Region um Ambatolampy und
Antsirabe anzutreffen. In der Region um Mahajanga finden sich
die Nachkommen der eingeführten Brahman-Rinder. Etliche der
importierten Rassen (Brahman, Friesland, Holstein) degenerierten
im Laufe der Jahre durch eine unkontrollierte Vermischung mit
lokalen Zebu. Ein paar Versuchsbetriebe züchteten Kreuzungen für
eine erhöhte Fleischproduktion, so die renitelo aus den
Rassen Afrikander, Limousin und Zebu. (renitelo heisst: drei Mütter)
Diese Zuchtmassnahmen zur Leistungssteigerung der Rinderhaltung
hatte allerdings kaum Erfolg.
Eine
gezielte Rinderzucht findet nur in geringem Mass statt,
Selektionen zur Verbesserung des Viehbestandes werden kaum
vorgenommen. Zudem sind die Zuchtkriterien soziologisch
beeinflusst: ebenso wichtig wie der Gesundheitszustand und das
Gewicht sind dem Viehhalter die Farbe des Fells und die Form der
Hörner. Bevorzugte Rinder erhalten auch eigene Namen,
entweder entsprechend ihrem Temperament oder vielfach gemäss
ihrer spezifischen Fellzeichnung. Die Rinder werden meist in
halbwildem Zustand unter Aufsicht von Hirten in extensiver
Weidehaltung gehalten. (Auf Madagaskar sind 34 Mio. Hektaren
(60% der Landesfläche) als Weideland deklariert.) Pro
Grossvieheinheit wird mit einem Weidelandbedarf von 4 bis 6 ha
gerechnet. Der Besitzer kennzeichnet seine Rinder durch
individuelle Einschnitte an den Ohren, sofindrazana (Ohr der
Ahnen) genannt. Die Muster dieser Markierungen sind weitherum
bekannt und dienen dem legalen Besitzanspruch. In den fast
menschenleeren Regionen des Westens existieren auch Herden von
verwilderten Rindern (omby mahery).
Auf
dem Hochland werden die Rinder tagsüber von Kindern in der Nähe
der Dörfer gehütet und abends in einen Kral (fahitra) in
die unmittelbare Nähe der Häuser geführt. Eine
Stallhaltung mit Futterzugabe ist - ausser in ein paar wenigen
Intensivbetrieben - unbekannt. Einige Bauern mästen ihre
Rinder allerdings in tiefen Erdgruben, um Diebstähle zu
vermeiden und Dung zu gewinnen.
Das
Vieh ist frei von den grossen Viehkrankheiten wie etwa
Rinderpest, Maul- und Klauenseuche. Allerdings sind die
Jungtiere sehr anfällig auf Krankheiten: um die 40% der Kälber
sterben an Parasiten. Der Kampf gegen Viehkrankheiten
(Milzbrand, Rindertuberkulose) und das Durchführen von
Impfaktionen leiden oft unter der mangelnden Organisation der
Administration und an unzureichenden Impfstoffen. Die Viehhalter
kennen allerdings eine Vielzahl an traditionellen Heilmitteln,
beispielsweise das Füttern von gezuckertem Maniok gegen
Zahnschmerzen. (Die in Afrika grassierende Tsetsefliege kommt
auf Madagaskar nicht vor.)
Der
Viehbestand betrug seit Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen 5
und 7 Millionen Tiere, genaue Erhebungen waren und sind
allerdings kaum möglich, da kein Besitzer die wirkliche
Anzahl seiner Tiere anzugeben gewillt ist. 1975 wurde der
nationale Bestand auf 6 Mio. Tiere geschätzt, 1984 waren es
um die 11 Mio. Mit diesem Bestand weist Madagaskar eine hohe
Viehquote auf: pro Einwohner kommt ein Zebu. (Um 1993 gab es
10,3 Mio Rinder, wobei 9,89 Mio. lokale Zebu waren, 13’000
Tiere Milchkühe und der Rest Mischrassen aus lokalen und eingeführten
Rassen.) 80% der Rinder werden nach wie vor nach traditionellen
Methoden aufgezogen und gehalten.
Viehhaltung
in grossem Ausmass ist vor allem an der regenarmen Westküste
und im trockenen Süden anzutreffen. Die Provinzen Mahajanga und
Tulear beherbergen zusammen rund 60% aller madagassischen
Rinder. Die Hirten wandern mit ihren Herden in zyklischer
Transhumanz dem Gras und den Wasserstellen nach. Zuweilen sind
die Weideflächen überstockt, insbesonders während den
langanhaltenden Trockenperioden erhalten die Tiere nur eine kümmerliche
Nahrung. In diesen Regionen finden sich auch grosse
Rinderbarone, die 1000 und mehr Tiere besitzen. Ein weiteres
Rindergebiet findet sich ganz im Norden in der Provinz Diégo-Suarez
(Sambirano und vor allem um Vohémar) Diese Aufzuchtgebiete
beliefern das Hochland und vor allem auch die Ostküste mit
Lebendvieh. Zu jeder Jahreszeit sind zum Teil beträchtliche
Viehherden in Richtung Hochland unterwegs, viele transitieren
die beiden dominanten Viehmärkte in Tsiroanomandidy und
Ambalavao. Die Herden werden von kleinen Händlern geführt
oder gehören einflussreichen Rinderhändlern (mpandranto).
Ein Teil der Rinder wird an die Ostküste gebracht, wo ein
konstanter Mangel an Rindern besteht. In der Provinz Tamatave
befinden sich nur 5% des gesamten Rinderbestandes Madagaskars.
Die
Kommerzialisierung von Rindern interessiert längst nicht
alle Viehbesitzer. Das Rind hat zwar in Madagaskar keinen
heiligen Status, doch es wird hoch geschätzt. Es stellt ein
Zeichen des Reichtums dar, ist aber nicht die Quelle von
Reichtum. Der soziale Status, den eine zahlreiche Herde bringt,
hindert den Besitzers am Verkauf seiner Tiere.
Typische
Viehhalter wie die Bara, Mahafaly, Antandroy und die Sakalava
betrachten ihre Rinder als Ausdruck von sozialem Prestige und
streben danach, eine möglichst grosse Anzahl zu besitzen.
Dazu sind alle Mittel recht: auch Diebstahl. Ein sehr
differenzierter Rinderkult weist erstaunliche Parallelen mit
ostafrikanischen Rindervölkern auf. Nur im Notfall werden
Rinder verkauft. Fleisch wird nur bei Festen gegessen, wobei die
Verteilung des Fleisches genauen Regeln folgt. So erhält
der Familienvorsteher den begehrtesten Teil, das Hüftstück.
Das
Zebu ist überall in Madagaskar (ausser bei den Vezo, die
Schildkröten benutzen) das traditionelle Opfertier bei
Einweihungen, grösseren Festlichkeiten, religiösen
Zeremonien und als Brautgabe. Das Blut wird aufgefangen und hat
sakralen Wert. Es symbolisiert Fruchtbarkeit und den
Zusammenhalt der Gruppe. Ein traditioneller Mahafaly hinterlässt
seinen Kindern kein Erbe, der Besitz, also seine Rinder, werden
bei der Beerdigung geschlachtet und die Hörner auf das
Grabmal gelegt. Die Anzahl der Hörner auf dem Grab weist
auf die Bedeutung des Verstorbenen hin. Als der junge König
Radama I 1828 starb, wurden 20’000 Rinder geschlachtet. Im Süden
und insbesonders im Land der Bara und der Antandroy müssen
Heiratskandidaten über eine möglichst grosse Herde verfügen,
um die Gunst der Auserwählten (und ihrer Familie) zu
erlangen. Dort entwickelte sich der Viehdiebstahl zu einer Art
Sport und Mutprobe. Diese Sitte wurde allerdings im Verlauf des
20. Jahrhunderts zur Unsitte: der Viehdiebstahl wird heute
zunehmend als gutorganisierte Operationen und mit Waffengewalt
durchgeführt, verunsichert weite Landstriche, hat zur Entvölkerung
von ganzen Regionen geführt und die Entstehung von kriminellen
Banden gefördert, die heute auch Fahrzeuge, isolierte
Weiler und ganze Dörfer überfallen. Daher achtet ein
geschickter Rinderbesitzer stets darauf, dass ein Teil der
Rinder als omby madio (saubere Rinder) sind, also gegenüber der
Administration deklariert sind - durch diese Herde kann er seine
omby maloto (schmutzige Rinder) abschirmen.
Auf
dem Hochland ist das Verhältnis zwischen Mensch und Rind
profaner. Da es rentabler ist, Reis zu pflanzen, als Vieh zu züchten,
hat sich dort eine Mischform von Landwirtschaft und Viehhaltung
entwickelt. Die Tiere werden nicht nur zu reinen Schlachtzwecken
gehalten, sondern auch als Zugtiere für die Ochsenwagen und für
die - allerdings seltenen - Pflüge eingesetzt. Diese Zugtiere
sind meist Ochsen (vositra), die einen Drittel des Viehbestandes
auf dem Hochland ausmachen. Im bäuerlichen Umfeld ist in
den letzten Jahren eine eindeutige Tendenz zum vermehrten
Gebrauch der Ochsenwagen festzustellen: zwischen 1970 und 1986
haben sich die sarety (von französisch charette für einen
einachsigen Ochsenwagen) versiebenfacht.
Eine
wichtige Funktion haben die Zebu beim Reisanbau: die Rinder
werden vor der Aussaat über die unter Wasser stehenden
Reisfelder gejagt, damit sie die Erde zu Schlamm weichtrampeln.
Früher wurden die Rinder auch als Reittiere eingesetzt.
Als
Milchproduzenten nehmen die Rinder nur eine marginale Position
ein. Ein Zebu liefert bloss ein bis zwei Liter Milch pro Tag und
auch dies nur während einer kurzen Periode. Die
Jahresproduktion macht zwischen 200 und 300 Liter pro Milchkuh
aus. Meist werden die Kühe nicht gemolken, die Milch wird dem
Kalb überlassen. In etlichen Regionen ist es auch fady (tabu),
Milch zu trinken oder zu verkaufen. Nur in der Region um
Antsirabe und um Antananarivo hat sich eine milchverarbeitende
Industrie gebildet. Diese Initiative geht (in Antsirabe) vor
allem auf norwegische Bemühungen zurück. In Antsirabe wird
auch Käse produziert. Doch dreiviertel der konsumierten
Milch wird aus - importiertem - Milchpulver hergestellt, wie
auch die überall im Land vertriebene, hochgezuckerte
Kondensmilch. Drei Unternehmen verarbeiten Milch auf
industrieller Basis (TIKO, SMPL, LMG). Im nationalen
Durchschnitt trinkt eine Person bloss 1,5 Liter Milch pro Jahr.
Schon
die ersten Seefahrer waren am Kauf von madagassischem Vieh
interessiert und die Inseln La Réunion und Mauritius versorgten
sich während Jahrhunderten mit Lebendvieh aus Madagaskar.
Früher wurde Vieh und Fleisch in grossem Stil exportiert, in jüngerer
Zeit nahm diese Einnahmequelle allerdings ab und durch die sanitärischen
Bedingungen der EU-Normen blieb Madagaskar lange Zeit von diesem
wichtigen Markt ausgeschlossen. Die Exporte wurden in den 1980er
Jahren zeitweilig unterbrochen, was in den Rindergebieten um
Fort-Dauphin und Vohémar zu problematischen Situationen führte.
Seit
Jahren schielt Madagaskar für den Export von Fleisch auf den
europäischen Markt mit seinen hohen Preisen. Die Schlachthöfe
von Mahajanga, Morondava und Antananarivo wurden mit Kapital der
FED (Fonds Européen de Développement) rehabilitiert und erfüllen
seit 1991 die Vorschriften der EG-Normen betreffend
Fleischimporten. Madagaskar lieferte im Mai 1991 wieder erstmals
13 Tonnen Fleisch nach La Réunion. Vorgesehen ist ein Export
von mindestens 600 Tonnen pro Jahr nach Réunion, ein Markt, der
jährlich 3000 Tonnen importiert, vor allem aus Botswana.
Die EG hat ab 1992 für Madagaskar eine Quote von 7600 Tonnen
Fleisch reserviert, davon soll der Schlachthof von Mahajanga
4000 Tonnen liefern, 3000 Tonnen sollen aus Morondava stammen
und 600 Tonnen aus Antananarivo, wo sich der kleinste der drei
Schlachthöfe befindet. (Allerdings schaffte es Madagaskar
nicht, diese EU-Quote zu erfüllen, unter anderem auch, weil
1993 45% des Fleisches in Mahajanga von tuberkulösen
Rindern stammte.) Fleischkonserven (corned beef) werden in die
Golfstaaten exportiert, in afrikanische Länder und auf die
umliegenden Inseln.
Es
wird geschätzt, dass pro Jahr etwa eine Million Rinder
geschlachtet werden. Der grösste Teil davon dient dem
unmittelbaren Eigenkonsum. Nur rund 127’000 Tonnen Rindfleisch
wurden 1987 vermarktet, ein äusserst geringer Teil davon
gelangte in den Export.
508
Tonnen Leder wurden ins Ausland verkauft. Unternehmen wie BATA
und OMNIUM produzieren in Antananarivo Schuhe, die allerdings für
weite Teile der Bevölkerung zu teuer sind. Unzählige
Kleinstbetriebe fabrizieren preisgünstigere Schuhe.
Schweine
werden hauptsächlich (zu 75%) auf dem Hochland von den
Merina und Betsileo gehalten. Dort widmet sich jeder dritte
Haushalt der Aufzucht von Schweinen. Entlang der Ostküste
halten sich vor allem die Chinesen und ihre Mischlingsnachkommen
Schweine.
Das
traditionelle, madagassische Schwein (kisoa) stammt aus
Indonesien und ist von schwarzer Farbe. Andere Rassen wurden von
den Colons aus Europa eingeführt. Die Schweinepopulation ist
sehr schwankend und wohl kaum richtig erfassbar: 1986 wurde sie
mit 1,4 Mio. Tieren angegeben, ein Jahr später mit
654’000. 1993 sollen es 880’000 Tiere gewesen sein. Nur
36’000 Tonnen Schweinefleisch werden jährlich
kommerzialisiert.
Interessanterweise
wird Schweinefleisch von den Madagassen mehr geschätzt als
Rindfleisch und ist auch rund viermal teurer. In einigen
Gebieten unterliegt das Essen von Schweinefleisch einem fady und
in den nördlichen, moslemischen Regionen ist der Genuss aus
religiösen Gründen verboten.
Die
in Madagaskar vertretenen Fettschwanzschafe (ondry) stammen aus
Kontinentalafrika. Schafe werden vor allem im trockenen Süden
gehalten, auf dem Hochland sind sie nur äusserst selten zu
sehen. Der Bestand wird grob auf eine halbe Million Tiere geschätzt.
Wie
in vielen Rinderkulturen bilden Schafe und Ziegen das
'Kleingeld' der Besitzer, von denen sie sich ohne Mühe trennen
- im Gegensatz zu ihren Rindern. Daher schwankt der Bestand beträchtlich,
wie er auch auf die klimatischen Gegebenheiten (Trockenzeiten)
in direkter Weise reagiert.
Die
Ziegenpopulation liegt normalerweise wohl über einer Million
Tiere und somit weit höher als jene der Schafe. 90% der
Ziegen (osy) Madagaskars werden in der Provinz Tulear gehalten.
In
dieser Provinz wurde auch ein Entwicklungshilfeprojekt
gestartet, das die Wolle der - eingeführten - Mohair-Ziegen zu
Teppichen verarbeitete. Das Projekt und die Mohair-Kooperative
von Ampanihy sind jedoch seit Jahren 'en panne'. Die noch
vorhandenen Mohair-Ziegen degradieren inzwischen mangels Auslese
und Zuchtmassnahmen, ebenso wie die Qualität der noch von
einzelnen Frauen gewobenen Teppiche abnimmt.
Jeder
madagassische Haushalt hat, wenn es die Umstände erlauben,
eine Anzahl Kleintiere und Federvieh. Die Geflügelpopulation (Hühner,
Gänse, Truthähne) beläuft sich auf 15 bis 18 Mio.
Eine erhöhte Konzentration von Gänsen befindet sich in
der Region um den Lac Alaotra. Die Tiere werden als
Weihnachtsbraten in die urbanen Zonen verkauft. Seit einiger
Zeit finden sich in der weiteren Umgebung der Hauptstadt auch
Aufzuchtbetriebe für Truthennen und Gänse, die den städtischen
Markt beliefern. Einige Unternehmen haben sich auch auf die
Produktion von Gänseleberpastete spezialisiert, die
teilweise auch exportiert wird – das zwangsernärte
Federvieh sind allerdings Enten.
Kaninchen
werden vor allem auf dem Hochplateau und vornehmlich für den
Eigenkonsum gehalten.
All
diese Tiere können mit fady (tabu) belegt sein, sodass es
in speziellen Regionen oder in einzelnen Familien verboten ist,
sich mit diesen Tieren zu beschäftigen oder sie zu essen.
So ist es beispielsweise in einigen Orten in der Umgebung von
Antananarivo fady, Schafe zu halten.
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