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Fady
Der
traditionelle madagassische Mensch ist umwoben von
Verhaltensregeln und Verboten, die ihn in seine soziale Umgebung
einbetten und das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft
regeln. Etliche dieser Verbote betreffen den Clan als ganzen,
andere beziehen sich auf einzelne Familien und reichen bis hin
zu individuellen Meidungsgeboten. Sie greifen in sämtliche
Aspekte des individuellen Lebens ein, und ihre Respektierung ist
für den Einzelmenschen zwingend vorgeschrieben. In den europäischen
Sprachen hat sich für diese Vorschriften das polynesische Wort
'tabu' eingebürgert. Die Madagassen benutzen für den gleichen
Sachverhalt das ursprünglich indonesische Wort 'fady'. Fady ist
alles, was verboten ist. Ein madagassische Sprichwort sagt: Ich
würde lieber sterben, als etwas essen, das fady ist.
Alle
Völker Madagaskars kennen fady-Gebote. Viele davon sind für
alle Personen gültig und allen bekannt, andere sind so
individuell, dass sie niemals öffentlich bekannt werden dürfen.
Fady können sozial, zeitlich und örtlich begrenzt
sein. Familienspezifische fady werden von Generation zu
Generation weitervererbt.
Einzelne
Handlungen können mit fady belegt sein, ebenso wie
Lebewesen, Gegenstände, Örtlichkeiten und Wörter.
Fady heisst immer: 'du sollst nicht', und dies ist gleichzeitig
eine Warnung. Wer fady nicht beachtet, willentlich oder
unabsichtlich, gehört nicht mehr zu seinem sozialen Umfeld
und fühlt sich selber nicht mehr dazugehörend, ist
unsauber (maloto), erleidet eine Bestrafung, wird krank oder
stirbt sogar.
Um
sich vorsorglich gegen eventuelle fady-Übertretungen zu schützen,
zelebrieren die Bewohner ganzer Dörfer gemeinsam Sühneopfer.
Ebenso erbitten Individuen vor dem Antritt einer Reise
sicherheitshalber um Verzeihung, wenn sie die betreffenden fady
der ihnen fremden Region nicht kennen. Die übernatürlichen Kräfte
werden im voraus um Nachsicht gebeten und die Person fühlt sich
fortan immun gegen unbekannte fady.
Als
Bezeichnung für 'Entschuldigung' benutzen auch westlich lebende
Madagassen die Formulierung 'aza fady' (möge es nicht tabu
sein für mich). Dies sagt die Sekretärin, wenn sie am
Telefon eine Auskunft oder eine Person verlangt, dies sagt der
Kunde im Geschäft, und dies sagt auch jemand, der zwischen
zwei Leuten hindurchgeht, die miteinander reden. In diesem Fall
beugt sich die Person und führt den ausgestreckten rechten Arm
vor dem Körper her, als ob sie ein unsichtbares Band
zwischen den Sprechenden nicht durchschneiden wollte.
Sowie
neue fady vom Familienoberhaupt oder vom ombiasy (Zauberer)
deklariert werden können, so können Tabus auch wieder
aufgehoben werden.
Auch
ein geschehener Verstoss gegen ein fady kann wieder aufgehoben
werden, der 'Sünder' kann durch Reinigungsakte wieder in die
Gemeinschaft reintegriert werden.
Krankheit
wird in erster Linie als Ausdruck des Nichteinhaltens eines fady
(ota fady Verstoss gegenüber fady) interpretiert.
Daher
wird der Kranke zuerst von einem ombiasy begutachtet, lange
bevor er sich in die Hände eines Arztes und seiner
westlichen Medizin begibt. Wenn eine Frau keine Kinder gebären
kann, so hat sie oder ihr Mann ein fady übertreten. Wenn die
Ernte oder der Fischfang ausbleibt, liegt dem ein fady-Bruch
zugrunde. Bei grassierem Hunger, Zyklonen oder Epidemien im Land
wurde gegen fady gesündigt. Jegliches Unglück von Mensch und
Tier, von Besitzverlust, von körperlichem und seelischem
Ungemach wird im Lichte des fady gesehen, beziehungsweise als
Verstoss dagegen interpretiert. Dies trifft auch auf Tiere zu:
wenn ein Rind einen mit fady belegten Ort zerstört, wird es
geschlachtet.
Das
menschliche Leben verläuft nicht ziellos. Ihm liegt ein
Lebensplan zugrunde, ein Weg, den es zu durchlaufen gilt. Dieser
Lebensplan - oder Schicksal - wird vintana genannt. Ein neues
Haus muss entsprechend des vintana gebaut werden, ebenso ein
Grab. Der Lebenslauf eines Neugeborenen hängt vom vintana
ab, ebenso wie die Hochzeit, die Aussaat und die Ernte. Vintana
begleitet den Menschen durch das Leben, durch die guten (tsara)
Tage und durch die schlechten (ratsy) Tage.
Eng
verknüpft mit dem vintana sind die fady-Vorschriften. Die fady
sind die Wegweiser, die dem instabilen Menschen helfen, nicht
von seinem Weg abzukommen. Der sensible Mensch wird also laufend
nach Indizien Ausschau halten, sie interpretieren und danach
handeln. So kann beispielsweise eine Eidechse, die in einer
bestimmten Richtung den Weg kreuzt, ein Zeichen sein, ein persönliches
fady zu schaffen, sie kann eine Warnung vor einem allfälligen
fady-Bruch sein oder sie kann eine Bestätigung des
Lebensweges sein. Die Interpretation dieses Vorfalls hängt
nicht nur von der Musterung, Farbe, Grösse und Laufrichtung
der Eidechse ab, sondern auch vom Verhältnis der
betreffenden Person, seiner Familie und seines Clans mit dieser
Tierart.
Viele
fady beziehen sich auf das Heim (tokantrano) der Familie, die
Erziehung der Kinder und auf den Umgang der Familienmitglieder
miteinander. Ein ganzer Katalog schreibt den Kindern spezifische
Verhaltensweisen vor, die sie zu ihrer Sozialisation hinführen
sollen. Kindern ist es verboten, den Vater bei seinem Namen zu
nennen, sie rufen ihn ray, dada oder ikaky. Ebenso wie sie die Körperteile
des Vaters nicht direkt erwähnen dürfen, so bezeichnen sie
beispielsweise Vaters Füsse durch die Umschreibung 'womit er
geht'. Kinder dürfen erst essen, wenn der Vater zwar selber
begonnen hat, aber ihnen die Erlaubnis noch nicht erteilt hat.
Dem Vater gehörende Gegenstände, so etwa der Esslöffel,
sind tabu für die Kinder. Kinder dürfen nicht nördlich
des Herdfeuers sitzen, denn dieser Ehrenplatz ist den Männern
und ihren wichtigen Gesprächssitzungen vorbehalten.
Viele
fady beziehen sich auf Pflanzen und Tiere, wobei sie diese vor
Eingriffen schützen und deren Genuss verbieten. So ist in
einigen Regionen das Pflanzen von Zwiebeln und Erdnüssen
verboten, ebenso wie das Halten von Ziegen und Schafen. Kälber
mit bestimmten Fellzeichnungen, zum Beispiel Tiere mit weissen
Beinen oder auch mit einem roten Fell (omby mena), werden nach
der Geburt sofort geschlachtet. Andere Rinder hingegen dürfen
keinesfalls getötet werden, sondern werden mit Respekt und
Ehre gepflegt. Diese Kühe, im Menabe dabara genannt, dürfen
auch nicht gemolken werden. Diese Art 'heilige Kühe' waren auch
in Imerina bekannt, dort wurden sie dem König als Geschenk
zur Erlangung von Gunst (hasina) übergeben.
Hunde
gelten in Madagaskar allgemein als unrein und minder, im Lande
der Antaimoro sind sie tabu. Einer der schwersten Flüche eines
angeschuldigten Madagassen ist: Wenn ich dies getan habe, dann mögen
meine Vorfahren Hunde werden! (Die schwerste Beleidigung, die
man einem Madagassen zufügen kann, ist, ihn einen Hund zu
nennen.)
Auch
Wildtiere unterliegen fady, so etwa die Aye-Aye-Lemuren. Lemuren
werden zwar normalerweise gejagt und - manchmal nur an
speziellen Orten - gegessen. Doch der Aye-Aye wird wegen seiner
ihm zugeschriebenen übernatürlichen Kräfte gefürchtet
und somit in Ruhe gelassen. Schlangen, insbesonders die Boa (dona),
gelten vielerorts als heilig und als Reinkarnationen von
Verstorbenen. Kriecht eine Schlange durch das Dorf, wird ihr
Milch und Essen gereicht und anhand ihrer Zeichnung und ihrer
Bewegungen erraten die Leute, um welchen Ahnen es sich handeln könnte.
Die Schlange - also den Ahnen - zu töten, ist fady. Das
gleiche gilt für Krokodile.
Die
Omnipräsenz der fady in allen Aspekten des Lebens birgt
auch die stete Gefahr, gegen diese Fady zu verstossen. Daraus
resultieren Schuld und Strafe. 'Sünde' im traditionellen Sinne
heisst ota und bezieht sich auf das Übertreten von fady (ota
fady: gegen fady verstossen), und nicht etwa auf das Übertreten
von staatlich verordneten Geboten und Gesetzen, das nie eine übernatürliche
Strafe nach sich zieht.
Eine
Sünde (ota) ota kann begangen werden durch Verstoss gegen das
fady eines Fetisch, gegen das fady des vintana (Schicksal),
gegen ein fady eines ombiasy (Zauberer), gegen ein fady der
Vorfahren oder gegen den Verstoss eines fady der Sitte und
Tradition (fomba sy fanao), die von altersher von den Ahnen überliefert
worden sind.
Diese
Schuld (heloka) ist eine Schuld gegenüber einer übernatürlichen
Macht. Schuld zieht Strafe (voina) nach sich. Der Sünder wird
unmittelbar und noch in diesem Leben bestraft und zwar zwingend,
sei es durch Verlust, Krankheit oder einen qualvollen Tod. Die
Strafe kommt zumeist von Gott (Andriamanitra) und wird nur
selten von den Mitmenschen vollzogen.
Um
heloka von sich abzustreifen, muss ein ritueller Akt vollzogen
werden, so etwa ein Tier geopfert werden. Dadurch wird der Sünder
gereinigt und seine physische und psychische Krise findet durch
diesen Prozess ein Ende. Und damit fühlt sich der Mensch wieder
in Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft aufgehoben und im
fihavanana mit seiner Umwelt.
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