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PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Fady

Der traditionelle madagassische Mensch ist umwoben von Verhaltensregeln und Verboten, die ihn in seine soziale Umgebung einbetten und das Funktionieren der menschlichen Gesellschaft regeln. Etliche dieser Verbote betreffen den Clan als ganzen, andere beziehen sich auf einzelne Familien und reichen bis hin zu individuellen Meidungsgeboten. Sie greifen in sämtliche Aspekte des individuellen Lebens ein, und ihre Respektierung ist für den Einzelmenschen zwingend vorgeschrieben. In den europäischen Sprachen hat sich für diese Vorschriften das polynesische Wort 'tabu' eingebürgert. Die Madagassen benutzen für den gleichen Sachverhalt das ursprünglich indonesische Wort 'fady'. Fady ist alles, was verboten ist. Ein madagassische Sprichwort sagt: Ich würde lieber sterben, als etwas essen, das fady ist.

Alle Völker Madagaskars kennen fady-Gebote. Viele davon sind für alle Personen gültig und allen bekannt, andere sind so individuell, dass sie niemals öffentlich bekannt werden dürfen. Fady können sozial, zeitlich und örtlich begrenzt sein. Familienspezifische fady werden von Generation zu Generation weitervererbt.

Einzelne Handlungen können mit fady belegt sein, ebenso wie Lebewesen, Gegenstände, Örtlichkeiten und Wörter. Fady heisst immer: 'du sollst nicht', und dies ist gleichzeitig eine Warnung. Wer fady nicht beachtet, willentlich oder unabsichtlich, gehört nicht mehr zu seinem sozialen Umfeld und fühlt sich selber nicht mehr dazugehörend, ist unsauber (maloto), erleidet eine Bestrafung, wird krank oder stirbt sogar.

Um sich vorsorglich gegen eventuelle fady-Übertretungen zu schützen, zelebrieren die Bewohner ganzer Dörfer gemeinsam Sühneopfer. Ebenso erbitten Individuen vor dem Antritt einer Reise sicherheitshalber um Verzeihung, wenn sie die betreffenden fady der ihnen fremden Region nicht kennen. Die übernatürlichen Kräfte werden im voraus um Nachsicht gebeten und die Person fühlt sich fortan immun gegen unbekannte fady.

Als Bezeichnung für 'Entschuldigung' benutzen auch westlich lebende Madagassen die Formulierung 'aza fady' (möge es nicht tabu sein für mich). Dies sagt die Sekretärin, wenn sie am Telefon eine Auskunft oder eine Person verlangt, dies sagt der Kunde im Geschäft, und dies sagt auch jemand, der zwischen zwei Leuten hindurchgeht, die miteinander reden. In diesem Fall beugt sich die Person und führt den ausgestreckten rechten Arm vor dem Körper her, als ob sie ein unsichtbares Band zwischen den Sprechenden nicht durchschneiden wollte.

Sowie neue fady vom Familienoberhaupt oder vom ombiasy (Zauberer) deklariert werden können, so können Tabus auch wieder aufgehoben werden.

Auch ein geschehener Verstoss gegen ein fady kann wieder aufgehoben werden, der 'Sünder' kann durch Reinigungsakte wieder in die Gemeinschaft reintegriert werden.

Krankheit wird in erster Linie als Ausdruck des Nichteinhaltens eines fady (ota fady Verstoss gegenüber fady) interpretiert.

Daher wird der Kranke zuerst von einem ombiasy begutachtet, lange bevor er sich in die Hände eines Arztes und seiner westlichen Medizin begibt. Wenn eine Frau keine Kinder gebären kann, so hat sie oder ihr Mann ein fady übertreten. Wenn die Ernte oder der Fischfang ausbleibt, liegt dem ein fady-Bruch zugrunde. Bei grassierem Hunger, Zyklonen oder Epidemien im Land wurde gegen fady gesündigt. Jegliches Unglück von Mensch und Tier, von Besitzverlust, von körperlichem und seelischem Ungemach wird im Lichte des fady gesehen, beziehungsweise als Verstoss dagegen interpretiert. Dies trifft auch auf Tiere zu: wenn ein Rind einen mit fady belegten Ort zerstört, wird es geschlachtet.

Das menschliche Leben verläuft nicht ziellos. Ihm liegt ein Lebensplan zugrunde, ein Weg, den es zu durchlaufen gilt. Dieser Lebensplan - oder Schicksal - wird vintana genannt. Ein neues Haus muss entsprechend des vintana gebaut werden, ebenso ein Grab. Der Lebenslauf eines Neugeborenen hängt vom vintana ab, ebenso wie die Hochzeit, die Aussaat und die Ernte. Vintana begleitet den Menschen durch das Leben, durch die guten (tsara) Tage und durch die schlechten (ratsy) Tage.

Eng verknüpft mit dem vintana sind die fady-Vorschriften. Die fady sind die Wegweiser, die dem instabilen Menschen helfen, nicht von seinem Weg abzukommen. Der sensible Mensch wird also laufend nach Indizien Ausschau halten, sie interpretieren und danach handeln. So kann beispielsweise eine Eidechse, die in einer bestimmten Richtung den Weg kreuzt, ein Zeichen sein, ein persönliches fady zu schaffen, sie kann eine Warnung vor einem allfälligen fady-Bruch sein oder sie kann eine Bestätigung des Lebensweges sein. Die Interpretation dieses Vorfalls hängt nicht nur von der Musterung, Farbe, Grösse und Laufrichtung der Eidechse ab, sondern auch vom Verhältnis der betreffenden Person, seiner Familie und seines Clans mit dieser Tierart.

Viele fady beziehen sich auf das Heim (tokantrano) der Familie, die Erziehung der Kinder und auf den Umgang der Familienmitglieder miteinander. Ein ganzer Katalog schreibt den Kindern spezifische Verhaltensweisen vor, die sie zu ihrer Sozialisation hinführen sollen. Kindern ist es verboten, den Vater bei seinem Namen zu nennen, sie rufen ihn ray, dada oder ikaky. Ebenso wie sie die Körperteile des Vaters nicht direkt erwähnen dürfen, so bezeichnen sie beispielsweise Vaters Füsse durch die Umschreibung 'womit er geht'. Kinder dürfen erst essen, wenn der Vater zwar selber begonnen hat, aber ihnen die Erlaubnis noch nicht erteilt hat. Dem Vater gehörende Gegenstände, so etwa der Esslöffel, sind tabu für die Kinder. Kinder dürfen nicht nördlich des Herdfeuers sitzen, denn dieser Ehrenplatz ist den Männern und ihren wichtigen Gesprächssitzungen vorbehalten.

Viele fady beziehen sich auf Pflanzen und Tiere, wobei sie diese vor Eingriffen schützen und deren Genuss verbieten. So ist in einigen Regionen das Pflanzen von Zwiebeln und Erdnüssen verboten, ebenso wie das Halten von Ziegen und Schafen. Kälber mit bestimmten Fellzeichnungen, zum Beispiel Tiere mit weissen Beinen oder auch mit einem roten Fell (omby mena), werden nach der Geburt sofort geschlachtet. Andere Rinder hingegen dürfen keinesfalls getötet werden, sondern werden mit Respekt und Ehre gepflegt. Diese Kühe, im Menabe dabara genannt, dürfen auch nicht gemolken werden. Diese Art 'heilige Kühe' waren auch in Imerina bekannt, dort wurden sie dem König als Geschenk zur Erlangung von Gunst (hasina) übergeben.

Hunde gelten in Madagaskar allgemein als unrein und minder, im Lande der Antaimoro sind sie tabu. Einer der schwersten Flüche eines angeschuldigten Madagassen ist: Wenn ich dies getan habe, dann mögen meine Vorfahren Hunde werden! (Die schwerste Beleidigung, die man einem Madagassen zufügen kann, ist, ihn einen Hund zu nennen.)

Auch Wildtiere unterliegen fady, so etwa die Aye-Aye-Lemuren. Lemuren werden zwar normalerweise gejagt und - manchmal nur an speziellen Orten - gegessen. Doch der Aye-Aye wird wegen seiner ihm zugeschriebenen übernatürlichen Kräfte gefürchtet und somit in Ruhe gelassen. Schlangen, insbesonders die Boa (dona), gelten vielerorts als heilig und als Reinkarnationen von Verstorbenen. Kriecht eine Schlange durch das Dorf, wird ihr Milch und Essen gereicht und anhand ihrer Zeichnung und ihrer Bewegungen erraten die Leute, um welchen Ahnen es sich handeln könnte. Die Schlange - also den Ahnen - zu töten, ist fady. Das gleiche gilt für Krokodile.

Die Omnipräsenz der fady in allen Aspekten des Lebens birgt auch die stete Gefahr, gegen diese Fady zu verstossen. Daraus resultieren Schuld und Strafe. 'Sünde' im traditionellen Sinne heisst ota und bezieht sich auf das Übertreten von fady (ota fady: gegen fady verstossen), und nicht etwa auf das Übertreten von staatlich verordneten Geboten und Gesetzen, das nie eine übernatürliche Strafe nach sich zieht.

Eine Sünde (ota) ota kann begangen werden durch Verstoss gegen das fady eines Fetisch, gegen das fady des vintana (Schicksal), gegen ein fady eines ombiasy (Zauberer), gegen ein fady der Vorfahren oder gegen den Verstoss eines fady der Sitte und Tradition (fomba sy fanao), die von altersher von den Ahnen überliefert worden sind.

Diese Schuld (heloka) ist eine Schuld gegenüber einer übernatürlichen Macht. Schuld zieht Strafe (voina) nach sich. Der Sünder wird unmittelbar und noch in diesem Leben bestraft und zwar zwingend, sei es durch Verlust, Krankheit oder einen qualvollen Tod. Die Strafe kommt zumeist von Gott (Andriamanitra) und wird nur selten von den Mitmenschen vollzogen.

Um heloka von sich abzustreifen, muss ein ritueller Akt vollzogen werden, so etwa ein Tier geopfert werden. Dadurch wird der Sünder gereinigt und seine physische und psychische Krise findet durch diesen Prozess ein Ende. Und damit fühlt sich der Mensch wieder in Verwandtschaft und Dorfgemeinschaft aufgehoben und im fihavanana mit seiner Umwelt.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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