Christentum
Erst
der Kontakt mit den britischen Missionaren brachte die Idee
einer Religionsfreiheit nach Madagaskar. Vorher galt der König,
insbesonders bei den Merina, als gottähnlich, und wurde die
Ahnen als wegweisende Instanz verehrt.
Der
Merina-König Radama I lud die Missionare der London
Missionary Society anfangs des 19. Jahrhunderts ein, nach
Imerina zu kommen, um Schulen und Handwerksausbildung zu
betreiben. Dass die Missionare allerdings auch die Bibel und
christliche Glaubensinhalte mitbrachten, tolerierte er und
stellte gar Leute zur Verfügung, um die Bibel zu übersetzen.
Seine Nachfolgerin Ranavalona I machte in der ersten Zeit ihrer
Herrschaft den Missionaren gegenüber keine Schwierigkeiten. Die
Publikation der ersten Bibel in madagassischer Sprache geschah
1835 während ihrer Herrschaft. Danach jedoch setzte sie
immer mehr Sperren gegen die Christen, verbot das Christentum
und verursachte um die 400 Märtyrer. Viele madagassische
Christen versteckten sich in den Bergen oder setzten sich ins
Ausland ab.
Kaum
an der Macht, öffnete König Radama II das Land: die
Missionare der L.M.S. kehrten zurück, ebenso wie die Katholiken
Fuss fassten. 1861 bis 1868 war wohl die Periode mit der grössten
Religionsfreiheit.
Königin
Ranavalona II und der Premierminister Rainilaiarivony traten
1869 zum Protestantismus über, der dadurch zu einer Art
Staatsreligion wurde. Gleichzeitig liess die Monarchie die königlichen
sampy (Talismane) zerstören und brach damit mit einem
krassen Schritt mit der Vergangenheit. Im Code der 305 Artikel
von 1881 wurde die Religionsfreiheit verankert. Von diesem
Freiraum profitierten in erster Linie die Protestanten; die
Katholiken litten wohl eher unter diesem Dekret, denn die Königsklasse
und die Administratoren waren durchwegs protestantisch. Erst mit
dem Einmarsch der französischen Armee kamen im Gefolge der
Kanonenwagen auch die katholischen Missionare und damit eine
Favorisierung der Katholiken.
Eines
der Hauptanliegen der Missionare war die Abschaffung der
Sklaverei, dies geschah erst nach dem Einmarsch der Franzosen.
Im religiösen Bereich waren sie erfolgreich in der
Ausrottung der Talismane (sampy).
Für
ihre Bibelübersetzungen übernahmen die Missionare
madagassische Begriffe in den christlichen Kontext. So fand der
madagassische Name für Gott (andriamanitra) Eingang in Bibel
und Gebet. Ebenso wie fanahy für Seele. Andere Elemente, wie
die famadihana, wurden vom Volk christlich uminterpretiert und
bestanden weiter. So entstand ein eigenartiges Gemisch zwischen
Christentum und traditionellem Glauben, das wohl jeden Besucher
erstaunt, der beispielsweise eine famadihana miterlebt.
Die
FJKM (Fiangonana Jesosy Kristy eto Madagasikara) entstand 1968
aus dem Zusammenschluss von drei calvinistischen Kirchen (L.M.S.,
Anglikaner und Quäker) und umfasst über eine halbe Million
Protestanten. Darunter befinden sich sehr viele Mitglieder in
hohen Position in Verwaltung, im Militär und Geschäftsleben,
insbesonders die Vertreter der Haute Société Protestante von
Antananarivo dominieren diese Bereiche zu einem wesentlichen
Teil.
Die
protestantische Kirche ist in hohem Mass malgaschisiert - während
die katholische Kirche noch immer in grossen Teilen von ausländischen
Missionaren besetzt ist.
Die
Erste Republik unter Tsiranana hatte ein gestörtes Verhältnis
zum Protestantismus. Die eher katholisch orientierte PSD (Parti
Social Démocrate) betrachtete die FJKM als gegen den Staat
gerichtete Kraft und als marxistisch unterwandert. So war der
Oppositionsführer Richard Andriamanjato nicht nur Chef der AKFM
und Marxist, sondern auch protestantischer Priester. Zudem war
die AKFM einerseits eine fast reine politische Organisation der
Nachkommen der freien Merina (fotsy), daher traditionalistisch
eingestellt, zugleich aber marxistisch-revolutionär und in
der ersten Republik in Opposition zur herrschenden PSD, die sich
auf die vornehmlich katholischen côtiers stützte und auf die
mainty (ex-Sklaven), auch sie in der Mehrheit katholisch.
Die
FJKM wurde erst unter der Übergangsregierung unter Richard
Ratsimandrava anerkannt. Schwieriger wurde es unter der 2.
Republik. Das Verhältnis zwischen Kirche und Staat war oft
gespannt, obwohl die 'Charta der sozialistischen Revolution' und
die Konstitution Religionsfreiheit garantierten. Ratsiraka
beispielsweise empfing die FFKM (Conseil chrétien des églises
à Madagascar) nach Abschluss ihrer nationalen Konferenz im
September 1990 nicht zur Audienz. Oder Meldungen der Kirche
wurden nicht über das staatliche Radio verbreitet oder
kirchliche Deklarationen durften nicht publiziert werden.
Hingegen zeigte sich der Staat 1985 sehr kooperativ bei der
Organisation zum Gedenken der ersten Bibelausgabe vor 150
Jahren, oder zum 150-jährigen Gedenken an Rasalama oder
auch beim Papstbesuch von Johannes Paul II.
Die
lutheranische FLM (Fiangonana Loterana eto Madagasikara)
entstand aus zwei Missionsgesellschaften: aus der seit 1867 in
Madagaskar tätigen Norwegischen Mission (N.M.S.) und aus
der Lutheranischen Kirche Amerikas. Die FLM zählt heute
rund 1.3 Mio. Mitglieder und ist in 10 regionalen Synoden
unterteilt. Die FLM ist mit der FJKM und anderen im Rahmen der
FFPM, der Föderation der protestantischen Kirchen
zusammengeschlossen.
Die
anglikanische FEM (Fiangonana Episkopaly eto Madagasikara) weist
nur 60’000 Gläubige auf.
Die
katholische Kirche FKAR (Fiangonana Katolika Apostolika Romanina)
hat rund zwei Millionen Gläubige. Die katholische Kirche
wurde während der Kolonialzeit von den Franzosen stark gefördert.
Insbesonders den Jesuiten gelang es, sich einen sehr hohen
Wirkungsgrad und Einflussmöglichkeiten zu schaffen. Die
katholische Elite besuchte fast durchwegs die Schulen der
Jesuiten, so etwa der Dichter Jacques Rabemananjara, und auch
Didier Ratsiraka war Jesuitenschüler. Der Schriftsteller
Jean-Joseph Rabearivelo hingegen flog als Disziplinarstrafe aus
dem Collège Saint-Michel in Antananarivo. Nur noch zwei der 18
Diözesen sind von ausländischen Bischöfen
besetzt: in Ambatondrazaka von einem Italiener, in Morombe
jahrzehntelang von einem Schweizer, nun von einem Polen. Die
Katholiken haben die Führung der Kirche jedoch weit weniger in
einheimische Hände übergeben als die Protestanten. Noch
80% der Pfarrer und Pères sind Ausländer und 28% der Brüder.
Der
Protestantismus wird - in Imerina jedenfalls, wo die ersten
Missionare Protestanten waren - auch heute noch mit dem alten
Merina-Regime unter den madagassischen Monarchen gleichgesetzt.
Die katholische Kirche hingegen wird mit jenen Kräften
gleichgesetzt, welche die Monarchie zerstörten.
Etwas
vereinfacht gilt heute - auf dem Hochland - noch folgendes
Schema: Protestantismus gleich Engländer gleich
Merina-Monarchie gleich Tradition gleich sozial höhergestellt.
Demgegenüber gilt Katholizismus gleich Frankreich gleich
Anti-Merina gleich Küste gleich Sklave und Untergebener.
An
der Küste fügt sich noch die Formel an: Protestantismus gleich
Merina gleich Unterdrücker.
Die
vier christlichen Kirchen (Calvinisten, Lutheraner, Anglikaner,
Katholiken), denen um 1980 rund 5 Millionen Leute angehörten,
schlossen sich 1980 zur FFKM (Fikambanan'ny Fiangonana Kristiana
Malagasy), dem nationalen Rat der christlichen Kirchen, zusammen
und sahen sich in einer ersten Phase als unpolitisches
Gegengewicht zu Partei und Politik von Ratsiraka. In der Folge
jedoch verurteilte die FFKM in mehreren Hirtenbriefen die ökonomische
und soziale Politik des Ratsiraka-Regimes, kreidete Korruption
und Menschenrechtsverletzungen an. Ratsiraka reagierte
beleidigt, was hinter den Kulissen geschah, ist kaum bekannt.
Jedenfalls wurden unter bislang ungeklärten Umständen
1984 und 1985 Vertreter der FFKM umgebracht, darunter Père
Sergio Sorgon und Bruder Gérard Roy, der Sekretär der
Episkopalen Konferenz der FFKM.
Die
christlichen Kirchen wirkten in den 1980er Jahren immer offener
als soziales Gewissen. Seit 1990 forderte die FFKM eine
nationale Konferenz, nahm während der Unruhen von 1991 erst
eine neutrale Vermittlerrolle ein, schlug sich dann aber nach
dem Massaker vom 10. Juli 1991 klar auf seiten der
Oppositionsbewegung (forces vives). Auch in den Diskussionen um
den Wahlsieg von 2002 wirkten die christlichen Kirchen mit –
eher auf Seiten des neuen Präsidenten Ravalomanana und
gegen Ratsiraka.
Die
Kirchen wirken nicht nur im religiösen und politischen
Bereich, sondern haben Hilfswerke angegliedert, die Spitäler
in verschiedenen Regionen des Landes unterhalten, Bildungszyklen
organisieren, Bauernorganisationen schaffen, dörfliche
Reislager verwalten und Dorfbrunnen bauen.
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