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PRIORI, das Reisebüro für und in Madagaskar

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Madagaskar, das PRIORI-Buch

Franz Stadelmann

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Madagaskar: Symbiose zwischen Gestern und Heute

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Ernährung und Gesundheit

Ein Kranker im traditionellen Umfeld wird in erster Linie glauben, Opfer einer Verhexung oder eines Bestrafungsaktes eines Ahnen zu sein. Daher wird er wahrscheinlich erst den Rat eines traditionellen Heilers und Wahrsagers suchen. In vielen Fällen kann ihm auch geholfen werden, entweder durch Anrufung der Ahnen und durch rituelle Akte oder durch die traditionelle Pflanzenheilkunde, die in ländlichen Gebieten sehr stark verbreitet ist. Einzelne Heiler erlangen einen überregionalen Ruf wie jener in Ambatokely bei Maevatanana (Provinz Mahajanga).

Dieses Wissen wird seit einigen Jahren auch industriell genutzt. So ist mittlerweile auch wissenschaftlich bestätigt, dass ein Extrakt aus der Wurzel des rosaroten Immergrün ein wirksames Medikament gegen Kinderleukämie ergibt. Madagaskar exportiert inzwischen um die 100 Tonnen Immergrünwurzeln für die Pharmaindustrie.

Für Geburten wird die Hebamme (renin-jaza) des Dorfes gerufen, die ihre Kunst normalerweise durch jahrelange Erfahrung und nicht durch eine medizinische Ausbildung erlangt hat.

Die Fruchtbarkeit zu unterbrechen ist an sich eine fremde Idee in Madagaskar, denn je mehr Kinder geboren werden, umso angesehener ist die Mutter und umso potenter der jeweilige Vater. Trotzdem kommen Abtreibungen sehr häufig vor. Gründe dazu sind soziale Misere, Inzest und der erwachende Freiheitswillen vieler junger Frauen. Die Abtreibungen werden von traditionellen Spezialistinnen vorgenommen, oft unsachgemäss und auch noch bis zum fünften Monat der Schwangerschaft. Eine im fünften Monat gemachte Abtreibung kostet 150’000 FMG. Die Erfolgsquoten sind unbekannt, aber die Dunkelziffer der Todesfälle infolge unsachgemässer Abtreibung dürfte hoch sein. Die Pille ist für den Grossteil der Frauen unerschwinglich, ebenso wie sich der Gebrauch von Präservativen kaum durchgesetzt hat.

Das Hauptproblem und der Verursacher der meisten Krankheiten bleibt die Unterernährung und eine damit einhergehende Fehlernährung: 85% der Fälle von Kindersterblichkeit hängen mit Unterernährung zusammen. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit liegt bei 110 von 1000 Geburten.

Die Nahrung ist einseitig auf das Essen von Reis ausgerichtet. Doch nicht einmal davon gibt es genug für alle. Eine normale Ernährung sollte 400 Gramm geschälten Reis (rund 600 Gramm Paddy) pro Kopf und Tag betragen, was einer theoretischen Menge von 221 Kilo pro Jahr entspricht. Längst nicht alle Reisbauern schaffen es, die entsprechende Menge Reis für ihre - oft zahlreiche - Familie zu ernten. Natürlich sucht jede Familie, ihren Speiseplan durch Maniok und Mais, Gemüseblätter und etwas Fleisch zu bereichern. Doch sehr oft genügt der Vorrat nicht bis zur nächsten Ernte. Und noch häufiger stellt sich durch das ausschliessliche Essen von Reis eine krasse Fehlernährung ein. Leidtragende davon sind vor allem die Kinder.

Ein Drittel aller Krankheiten geht auf Probleme der Atemwege zurück. Fast so viele sind Infektionskrankheiten und Parasiten. Malaria ist eine immer wiederkehrende Krankheit, die sich vor allem an der Ostküste findet. Dort jedoch haben die Leute grösstenteils damit zu leben gelernt, anders als auf dem Hochland, wo Malaria zur Zeit der Kolonisation so gut wie ausgerottet war. Doch im Laufe der Jahrzehnte eroberte die Anopheles-Stechmücke wieder das Hochplateau, sodass in den Jahren 1987/88 auf dem Hochland mehrere hunderttausend Leute starben. 1988/89 wurde ein Notprogramm zur Bekämpfung der Malaria gestartet: DDT wurde gespritzt und Chloroquine abgegeben. Daraufhin gab es 75% weniger Tote.

Tuberkulose bleibt weit verbreitet und wird mangels Medikamenten kaum behandelt. Grosse Bevölkerungsteile sind von dieser Krankheit befallen.

Insbesonders Kinder leiden regelmässig unter chronischem Durchfall.

Ein grosses Problem stellen die Hautkrankheiten dar, die aufgrund von mangelnder Hygiene auftreten. Nur 1 bis 5% der Haushalte auf dem Land sind mit Latrinen ausgerüstet.

Bilharziose ist weit verbreitet. So gut wie jeder Reisbauer leidet unter dieser chronischen Infektion, denn die Bilharziose übertragenden Saugwürmer und ihre Wirtsschnecken leben gern in stehendem Wasser.

Die madagassische Art, Gefühlsregungen zu unterdrücken und Emotionen nicht zu zeigen, führt bei sehr vielen Leuten zu Geschwulsten und Wucherungen im Magen und Darm, verschlimmert durch den Stress des täglichen Überlebens und die oftmaligen Hungerphasen.

Geschlechtskrankheiten jeder Art sind häufig verbreitet, auch Aids (französisch Sida) hat sich bereits festgesetzt. 1989 wurden 7 Fälle bekannt, 1991 waren es 26 und 1992 34 Aids-Fälle. Dass Aids bereits weiten Bevölkerungsteilen bekannt ist, zeigt, dass Sida bereits als Kindername benutzt wird. USAID finanziert die kostenlose Abgabe von monatlich 25’000 Präservativen. Zudem wurden ab 1993 680 Prostituierte und Homosexuelle regelmässig vom Institut d'Hygiène Sociale kontrolliert. Es ist zu befürchten, dass Aids die am weitesten verbreitete Krankheit der nächsten Jahre sein wird.

Die durch Flöhe übertragene Pest flackert immer wieder auf, insbesonders in der Region um Vangaindrano und um Ambositra, aber auch alle paar Jahre in den ärmeren Quartieren der Hauptstadt.

Eine ganze Generation Madagassen wurde durch die Vorkommnisse der Pestseuche ab den 1920er Jahre geprägt. Diese Seuche, worauf die Kolonialadministration mit Härte und drastischen Massnahmen reagierte, hinterliess bei vielen Madagassen einen bitteren Geschmack, der nicht ausschloss, dass diese Krankheit als Vorwand genutzt wurde, das Volk noch mehr zu unterdrücken.

Die Pest flammte gegen 1894 in China in grossem Ausmass auf, und dieser Pestherd pflanzte sich bis an die Küste Madagaskars fort. In den Häfen der Insel traten schon wenige Jahre danach kurze Epidemien auf, die pro Jahr ein paar hundert Tote forderte: Tamatave (1898 - 1900), Diégo-Suarez (1899), Mahajanga (1902 - 1907). Dann folgten Jahre mit nur sporadischen Pestfällen, um dann - wahrscheinlich aus Mauritius eingeführt - zu Beginn des Jahres 1921 insbesonders in den Hafenstädten des Ostküste erneut drastisch auszubrechen.

Die Kolonialregierung veranlasste zwar die Desinfektion der eingeführten Waren und die sofortige Isolierung der infizierten Personen. Trotzdem gelangte die Pest nach Antananarivo: Im Juni 1921 ereigneten sich die ersten Pestfälle in der Stadt und wurden von den Leuten erst als Verhexungen betrachtet. Diese bis anhin auf dem Hochland unbekannte Krankheit verursachte zwar weniger Tote als etwa die Spanische Grippe von 1919, während der in Madagaskar 86’000 Leute starben, wovon ein Drittel in der Region um Antananarivo, doch die Angst vor der unbekannten Krankheit verursachte Panik und Angst. (Nicolas Mayeur berichtete zwar schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von einer tödlichen Krankheit, die er Brustkrankheit nannte, und womit er möglicherweise die Pest gemeint haben mochte.)

Am 1. Juli 1921 wurde erklärt, dass die damals rund 60’000 Einwohner zählende Hauptstadt von der Pest befallen sei. Betroffen waren vor allem die stark bevölkerten ärmeren Quartiere der Stadt in den tiefer gelegenen Zonen wie Isotry und das Gebiet um den Bahnhof. Ein Fünftel der Stadtbevölkerung floh in Panik in ihre Heimatdörfer - und trug so zur Verbreitung der Pest bei. Die Kolonialverwaltung verbot daraufhin den städtischen Bewohnern, ihre Quartiere zu verlassen. Trotzdem breitete sie sich allmählich in ganz Imerina aus. 1923 ereigneten sich die ersten Pestfälle in Itasy, 1925 in Vakinankaratra, dann in Ambositra. Die Dörfer entlang der Strassen wurden als erste betroffen, so lagen die Verbreitungsgebiete der Pest entlang der 'Route de la peste'.

Die Pest brach - und bricht noch heute - insbesonders zwischen Oktober bis April aus, der Zeit der Regen und der Hitze. Dies ist auch die Zeit, in der die Ratten aus den überschwemmten Reisfeldern, wo sie während der Trockenzeit in Höhlen wohnen, in die Dörfer und Vorratskammern kommen. Verantwortlich für die Verbreitung der Pest war und ist die schwarze Hausratte (rattus rattus), die praktisch überall in Madagaskar vorkommt. Und nicht die Wanderratte (rattus norvegicus), die von den Schiffen eingeschleppt, vor allem in den Küstenstädten Tamatave und Diégo-Suarez vorkommt. Erst ab 1982 wurde die rattus norvegicus auch in der Hauptstadt gesichtet. Andere Nagetiere spielten keine Rolle bei der Übertragung der Pest. Eine Ratte transportiert 5 bis 7 Flöhe, die dann auf den Menschen übergreifen.

So gut wie alle pestinfizierten Personen starben meist innerhalb von einer Woche. In der Stadt Antananarivo waren es 1921 53 Personen, in den folgenden Jahren zwischen 50 und 150 pro Jahr. Die Pest war jedoch immer eher eine dörfliche als eine städtische Krankheit. Während der Zeit der schlimmsten Pestepidemie (1924 - 1936) starben 34’510 Leute in Madagaskar an Pest, wovon nur 1297 in der Stadt Antananarivo. Etliche Dörfer starben komplett aus, andere wie Manjakandriana verloren jedes Jahr 10% ihrer Bevölkerung. Zahlreiche Dörfer wurden nach dem ersten Pesttoten von den Bewohnern verlassen.

Die Kolonialadministration reagierte rasch und durchgreifend: alle Toten mussten untersucht werden, Pesttote durften nicht im Familiengrab beerdigt werden, ihnen war die famadihana verboten. Weit nicht alle Pestfälle wurden der Administration bekannt gegeben, denn wo ein Pestfall auftrat, wurde das Haus von der Kolonialadministration verbrannt oder gar ganze Dörfer niedergebrannt. Zudem wurden die Pesttoten ohne Unterschied von Stand und Klasse in speziellen Friedhöfen (für Antananarivo befand er sich auf dem Hügel von Ampasampito) beerdigt, was dem Klassendenken der Madagassen zuwiderlief. Dies führte zu einem steten Kleinkrieg zwischen den Madagassen und der Kolonialregierung: Pestkranke wurden nicht deklariert, um sie nicht in Isolationsquarantäne geben zu müssen, Tote wurden im Geheimen beerdigt. Wer mit dem Toten Kontakt gehabt hatte, floh, um einer Quarantäne zu entgehen. Oder auch Ärzte wurden bestochen: jene, die sich nicht bestechen liessen, wurden mpanao pesta genannt (Pestmacher), die anderen deklarierten die Toten als nicht pestbefallen und ermöglichten so ein Begräbnis gemäss den alten Riten und zum Wohlgefallen der Ahnen.

Schnell auch entstand das Gerücht, die Pest sei von den Europäern erfunden worden, um die Madagassen zu dezimieren, zu beleidigen und zu unterdrücken. Dazu kam, dass kaum Europäer von der Pest befallen wurden und dass ihnen auch eine freiere Zirkulation zugestanden wurde. Der erste europäische Pestfall geschah erst 1926.

Die Hauptstadt glich einer belagerten Stadt mit Militär (senegalesische Schützen) als Wächter. Wer die Zone illegal verlassen wollte und erwischt wurde, wurde äusserst hart bestraft. In den späteren Jahren musste jeder Madagasse einen Sanitätspass mit Impfausweis vorweisen, um sich in eine andere Zone begeben zu dürfen. Erst ab 1932 wurde wieder eine freiere Zirkulation gewährt. Als ungerecht empfanden es die Madagassen auch, dass die französisierten Madagassen und jene mit Zugang zu den Europäern ebenfalls eine weit mildere Behandlung erfuhren.

Dass die Pest auch eine politische Waffe der Kolonialadministration sei, hielt sich als hartnäckiges Gerücht, als die Impfungen obligatorisch wurden. Diese Impfungen kannten zwar einen ersten Erfolg, weil sich die Bevölkerung an die effizienten Impfungen gegen die Spanische Grippe erinnerte. Nur machte die Pestimpfung keineswegs immun gegen die Krankheit und war zudem nur von kurzer Dauer. So wurden der Bevölkerung bis 1935 mehrere Impfstoffe aufgezwungen, die sich danach als nutzlos erwiesen. Trotz der Impfungen starben in den 20er und frühen 30er Jahren pro Jahr um die 2500 Personen. 1928 war ein schweres Pestjahr mit über 3000 Toten in ganz Madagaskar, ebenso 1932 - 1935. Erst ab 1932 wurde der von Dr. Girard entwickelte Impfstoff E.V. wirksam und verminderte daraufhin die Pestfälle drastisch. Doch die Madagassen hatten ihr Vertrauen in die Impfaktionen verloren: sie flohen bei Impfkampagnen oder pressten den Impfstoff nach erfolgter Impfung wieder aus der Haut aus Angst vor einer Verhexung. Nur durch wirkliche Unterdrückung und quasi militärischem Durchgreifen wurden die Impfkampagnen erzwungen. So sank die Zahl der Pesttoten ab 1937 unter tausend pro Jahr. Ab 1940 wurde die Impfung obligatorisch für die Bewohner der tiefgelegenen Quartiere der Hauptstadt. Doch noch 1940 gab es 754 Pesttote in Madagaskar und die Seuche flackerte bis 1953 immer wieder auf und verursachte jährlich 100 bis 300 Tote.

Ab 1950 wurde DDT zur Vernichtung der Ratten eingesetzt. Und erst ab 1950 galt die von 185’000 Bewohnern und 19’000 Häuser grosse Hauptstadt als pestfrei. Im Lande jedoch wurde die Pest nie ausgerottet: jedes Jahr starben und sterben ein paar Dutzend Leute an Pest. Betroffen sind vor allem die endemischen Zonen um Vangaindrano und Ambositra. Die Tendenz ist wieder zunehmend. So sind in den letzten Jahren um die hundert Fälle pro Jahr in Madagaskar zu verzeichnen. 1992 wurden landesweit 160 Fälle bekannt.

Von 1954 bis 1979 ereigneten sich in der Hauptstadt nur wenige isolierte Einzelfälle an Pest, doch ab dieser Zeit macht sie sich immer wieder bemerkbar. Und dies gilt auch für andere Städte, wie beispielsweise Mahajanga (1991). Als Mittel der Pestbekämpfung wird in der Hauptstadt jede tote Ratte mit 25 FMG bezahlt. Trotzdem bilden die engen Wohnbedingungen, die hygienischen Verhältnisse, der ungenügende Müllabtransport und die mangelnden Abwassersysteme weiterhin mögliche Pestherde.

Während Geisteskranke kaum abgesondert werden, ist die - heilbare - Lepra eine eher verschwiegene Krankheit. Die daran Erkrankten verstecken sich nach Möglichkeit und entziehen sich aus Scham einer möglichen Behandlung. In der Region von Antananarivo werden die Leprakranken in Manankavaly weit ausserhalb der Stadt gehalten. Auf das Land verteilt finden sich 26 religiös geführte Lepraspitäler. Die geheilten Leprakranken finden oft nur schwer den Weg zurück zur Familie und hinaus aus der gesellschaftlichen Randstellung.

Eine Erkrankung jeglicher Art ist auch in Madagaskar eine teure Angelegenheit. Die staatlichen Mediziner sollten eigentlich ihre Dienste kostenlos ausüben, doch hat sich auch hier ein System der kleinen Korruption etabliert. Zudem sind die Ärzte oft ungenügend ausgebildet. Die Standardanalyse der Mediziner für jegliche Krankheit ist 'fatigue générale' (generelle Müdigkeit) und 'décalcification' (Kalziummangel). Dagegen wird in der Mehrheit der Fälle ein Malariamittel und Calzium verschrieben. Der Kranke muss sich dann die Medikamente selbst besorgen oder sie dem Arzt abkaufen - ohne in vielen Fällen geheilt zu werden.

Die Impfprogramme für Kinder (Tetanus, Keuchhusten, Diphtherie) funktionieren hingegen gut, weil damit eine Art Wettbewerb verbunden ist. Rund 60% der Kinder sind geimpft.

Auffallend sind die unglaublich schlechten Zähne eines grossen Teils der Bevölkerung, vor allem auf dem Hochland. Dies mag auf einseitige Ernährung (Reis) zurückgehen, die Madagassen hingegen führen diesen Umstand auf den Mangel an Kalzium zurück. (Dieser Mythos hält sich hartnäckig und wurde ohne Erfolg vom Schweizer Pharmaprofessor Georges Peters jahrelang bekämpft.) Die Universität Mahajanga bildet hunderte von Zahnärzten aus: allerdings findet nur ein geringer Teil der ausgebildeten Zahnärzte eine Arbeit im Gesundheitsministerium und für viele bleibt die Eröffnung einer eigenen Praxis mangels Finanzen ein unrealisierbarer Traum.

Das Gesundheitsministerium verwaltet fast 2000 öffentliche Einrichtungen. Jede Provinz verfügt über ein Generalspital, in Antananarivo sind es zwei mit mehreren Fachabteilungen. Dazu kommen 13 Regionalspitäler, in denen auch Operationen vorgenommen werden, 58 einfache Spitäler, 103 medizinische Zentren, 413 Sanitätsposten, 145 Krankenstationen, 75 Entbindungsstationen und 1110 Ersthilfeposten. Diese recht hohe Dichte täuscht aber über die tatsächliche Qualität der Krankenpflege hinweg: keine 150 FMG für Medikamente stehen pro Jahr pro Bewohner zur Verfügung. Für den Kauf von Medikamenten werden 27% des Gesundheitsbudgets aufgewendet; um die 60% wird für die 14’300 Angestellten verbraucht. Das Gesamtbudget des Gesundheitsministeriums bewegt sich um die 30 Milliarden FMG, für den Kauf der Medikamente fallen bloss 4,5 Milliarden FMG (1992) ab, wozu noch die Schweizer Entwicklungshilfe jahrelang weitere 5 Milliarden beisteuerte, doch allein für den Kauf von Medikamenten würden 24 Milliarden gebraucht.

1975 wurden 9,2% der öffentlichen Ausgaben für das Gesundheitswesen aufgewendet, 1992 waren es nur noch 4,8%. Trotzdem kannte die Zweite Republik im Gesundheitswesen eine erstaunlichen Konstanz. Der langjährige (von 1975 bis 1991) Gesundheitsminister, Dr. Jean Jacques Seraphin, führte die Idee der 'Gesundheit für Alle' schon vor der UN-Konferenz von Alma Ata (UdSSR) ein. So geht die fast landesweite Abdeckung mit Sanitätsposten auf seine Initiative zurück, die Zahl der Mediziner und des paramedizinischen Personals verdoppelte sich von 1975 bis 1985. Allerdings blieben seine Pläne oft nur Papier, und es entwickelte sich gerade beim Ankauf und der Verteilung von Medikamenten eine gravierende Korruption.

Das Gesundheitswesen ist hoffnungslos unterfinanziert. Der Staat deckt bloss 10 - 20% der theoretischen Bedürfnisse an Medikamenten. Rund 1,5 Mia. FMG wurden in der 80er Jahren für Medikamentenkauf des Staates ausgegeben, wobei diese Summe infolge der Geldentwertung 1989 zehnmal weniger wert waren als 1980. Pro Person standen innerhalb der staatlichen Strukturen nur etwa 35 FMG pro Jahr zur Verfügung, dazu kamen rund 100 FMG an Geschenken von nationalen und internationalen Organisationen. Zudem wurden vom staatlichen Gesundheitsdienst eine unvernünftig hohe Anzahl an Medikamenten eingekauft (über 5000 Produkte), statt sich gemäss der Liste der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auf wenige hundert Produkte einzuschränken.

Im Durchschnitt gibt jeder Madagasse 4500 FMG pro Jahr für Medikamente aus. Um ein Minimum der Bedürfnisse zu decken, sollten 3 US-$ pro Jahr und Kopf zur Verfügung stehen.

Mediziner werden an den Universitäten in Antananarivo und in Mahajanga ausgebildet. Anfangs 1991 waren 3259 Ärzte in Madagaskar tätig, also ein Mediziner auf 4742 Personen, was verglichen mit afrikanischen Ländern eher gut ist. (Kamerun beispielsweise hat einen Arzt auf 12’000 Personen). Allerdings befinden sich in Madagaskar über 1000 Ärzte ohne Arbeit. In zehn Jahren wurden 2116 Mediziner ausgebildet. Doch die Flächendeckung ist nicht erreicht, zum Teil auch wegen der geringen Dichte der Bevölkerung. Gegen Ende der zweiten Republik wurde erlaubt, als unabhängiger Arzt (Médecin Libre) eine selbständige Praxis zu führen. Doch diese konzentrieren sich vor allem auf die Städte, was in einzelnen Quartieren sogar zu einem Überangebot führt. Hingegen steht den 31’000 Einwohnern der Region um Fenoarivo Be (rund 170 km westlich von Antananarivo) nur ein einziger Arzt zur Verfügung.

Zu den Leistungen des Staates gesellen sich etliche Spitäler und unzählige Krankenstationen der religiösen Orden, die in vielen Gegenden die einzige medizinische Anlaufstelle der Kranken bilden. Insbesonders die Lutheraner haben sich in diesem Sektor stark engagiert und bieten medizinische Hilfe zu zugänglichen Preisen. In der Hauptstadt haben sich in den letzten Jahren auch ein paar private Kliniken etabliert, von denen allerdings der Grossteil der Madagassen aus Geldmangel ausgeschlossen bleibt. Das ehemalige Hôpital Girard et Robic, das später Hôpital Militaire genannt wurde, wurde zu Beginn 1993 in Centre Hospitalier de Soavinandriana umbenannt und steht unter französischer Leitung.

Die madagassischen Apotheker wurden aufgrund von Stipendien zum grossen Teil in der ehemaligen UdSSR und in Rumänien ausgebildet, viele fanden nach ihrer Rückkehr keine Arbeit im Gesundheitsministerium und machten sich selbständig. So schossen ab 1990 zahlreiche Pharmacies aus dem Boden, heute findet sich in jedem Stadtquartier von Antananarivo mindestens eine Apotheke und eine Kleinstadt wie Moramanga beispielsweise hat deren drei. Leider neigen diese Apotheken dazu, die teuersten Medikamente zu verkaufen und keine einzige hat sich auf das Konzept der markenunabhängigen 'médicaments essentiels' (generische Produkte unter DCI) spezialisiert. So kommt die Behandlung gegen Würmer mit einem Markenprodukt über 70 mal teurer als mit einem generischen Produkt, das den gleichen aktiven Wirkstoff beinhaltet.

Erst seit jüngster Zeit bieten die Apotheken auch homöopathische Mittel an. Chinesische und koreanische Ärzte haben die Methode der Akupunktur eingeführt, doch das Gros der Studenten wird nach traditioneller westlicher Medizin ausgebildet. Chinesische Ärzte leiten Spitäler in Mahitsy (nördlich von Antananarivo), in Vatomandry an der Ostküste und in Ambovombe im tiefen Süden.

Etliche Firmen importieren Medikamente und vertreiben sie zum Teil über eigene Kanäle, wobei sie gern arbeitslose Ärzte als Vertreter einstellen. Nur drei Firmen produzieren Medikamente in Madagaskar: die mit chinesischer Hilfe 1985 erstellte und unter Staatskontrolle arbeitende OFAFA und die mit privatem Kapital erbauten Firmen FARMAD und RATHERA. Auch sie können sich nicht zur Produktion von Basismedikamenten entschliessen. Eine Anzahl an Instituten widmet sich der pharmazeutischen Forschung.

Auf dem Hochland gehört es zur Tradition, dass sich die Frauen im Roten Kreuz organisieren und dort tätig sind. Während der Kolonialzeit war die Verteilung des Malariamittels Nivaquine eine der Hauptaktivitäten, dazu führten sie oft Kantinen für Minderbemittelte und verteilten Kleider und organisierten Festivitäten. In fast jedem Dorf der Hochlandes gibt es heute noch das Rotkreuzhaus, obwohl es meist nur noch spärlich benutzt wird.

Einen interessanten Versuch startete 1989 die Schweizer Entwicklungshilfe (DEZA): zusammen mit dem Gesundheitsministerium wurden die Dorfbewohner animiert, sich in einer Genossenschaft zu organisieren und eine Dorfapotheke PhComm (pharmacies communautaires) zu gründen. Die Mitglieder bezahlten jeweils für das kommende Jahr einen von der Genossenschaft festgelegten Betrag und erhielten dadurch im Falle einer Krankheit Zugang zu den mit diesem Geld eingekauften Medikamenten. Zur Auswahl standen 39 Medikamente (médicaments essentiels) und 7 paramedizinische Artikel wie Desinfizierungsmittel, Verbandstoff und Spritzen. Durch das System der PhComm standen über 1000 FMG pro Person zur Verfügung, die Zentralstelle lieferte die bestellten und vorbezahlten Medikamente bis zum Bezirksort und übergab sie direkt in die Hände der Dorfvertreter. Dieses Experiment umfasste nach nur zwei Jahren Existenz bereits fast 100 Dörfer und erreichte 160’000 Leute (mehr als 1% der gesamten Bevölkerung). Dieses Experiment hatte insbesonders in der Provinz Fianarantsoa durchschlagenden Erfolg und liess sogar ein neues Wort entstehen: 'facom', die madagassische Aussprache für PhComm.

Eng mit dem Gesundheitszustand der Bevölkerung verbunden sind Wasser und Hygiene. Zwar ist das Herbringen von sauberem Wasser für den täglichen Bedarf schon ein grosses Problem, doch die Evakuierung der Abwässer und die Verhinderung der Übertragung von Krankheitserregern stellt eine noch so gut wie ungelöste Herausforderung. In den Städten sind nur 3% der Abwässer kanalisiert. Auf dem Land existieren keinerlei Massnahmen zur Evakuierung von Abwässern, ebenso wie Toiletten und Latrinen weitgehend fehlen. Die Stadt Fianarantsoa hat bloss zwei öffentliche Toiletten, wobei eine defekt ist.

Die Agglomeration Antananarivo mit ihren 1,3 Mio. Menschen verbraucht 35,8 Mio. m3 Wasser pro Monat. Das Wasser stammt vom See Mandroseza, der seinerseits durch eine Stauwehr aus dem Fluss Ikopa gespiesen wird, wo sich auch eine Wasseraufbereitungsanlage befindet.

Nur 55% der 220 Orte Madagaskars mit mehr als 2000 Einwohnern haben Wassersysteme, die allerdings in etliche Fällen nicht mehr funktionieren. Die 10’000 Einwohner des Landstädtchens Ambalavao beispielsweise verfügen über 20 öffentliche Wasserbrunnen, die nur während 6 Stunden pro Tag funktionieren.

Keine 10% der ruralen Bevölkerung hat Zugang zu akzeptablem Trinkwasser in genügender Quantität und in tolerabler Distanz (je nach Topografie 500 m). In den Dörfern auf dem Land existieren kaum Wasserversorgungsanlagen. 33% der Landbevölkerung nimmt ihr Wasser aus Flüssen, 39% von Quellen und 17% aus Brunnen. 10% fängt Regenwasser auf.

Schon zu Beginn der 1990er Jahre war klar, dass die ambitiösen Projekte der Regierung nicht zu erreichen waren: Ziel für das Jahr 2000 war, jedem Stadtbewohner einen individuellen Wasseranschluss zur Verfügung zu stellen und eine Tageskonsumation von 70 l pro Person zu ermöglichen. Im ländlichen Bereich war geplant, gemeinsame Brunnen zu schaffen, um in höchstens 15 Minuten (dh. 500 m) Fussmarsch Wasser herzubringen. Jedem Bewohner sollte mindestens 20 l pro Tag zur Verfügung stehen.

Die staatliche Unternehmen JIRAMA (Jiro sy Rano Malagasy), gegründet 1975, unterhält 63 der bestehenden 97 städtischen Wassersysteme in Madagaskar und versorgt somit 1,5 Millionen Menschen, wovon eine halbe Million einen privaten Anschluss hat und eine Million eine öffentliche Wasserstelle aufsucht. Pro Wasserstelle werden 500 Personen berechnet. JIRAMA liefert im Monat 75,7 Mio. m3 Wasser, wobei fast die Hälfte für Antananarivo.

Die restlichen 34 Systeme werden von den collectivités décentralisées verwaltet, sie bedienen allerdings weniger als eine halbe Million Menschen.

Einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Wasserversorgung auf dem Land spielen nichtstaatliche Organisationen (ONG). 17% der gesamten Investitionen im Wasserbereich werden allein von den vier ONG (FIKRIFAMA, ELM, CARITAS und SAF-FJKM) getätigt, die als Grundbedingung für ihre Intervention die aktive Mitarbeit der Dorfbevölkerung stellen.

Die Methode der ökumenischen FIKRIFAMA basiert auf der Initiative der Dorfbevölkerung. Wenn das Gesuch eingegangen ist, gehen Mitarbeiter der FIKRIFAMA ins Dorf und diskutieren das Projekt mit den Bewohnern. Ein Wasserkomitee aus Vertretern des Dorfes wird gegründet. Gleichzeitig wird die technische Durchführbarkeit studiert. Nach dieser Eingangsphase muss sich die Bevölkerung verpflichten, in Fronarbeit und Eigenregie die geforderte Menge Sand, Steine und Bauholz bereitzumachen.

Erst wenn das Material bereitgestellt ist, die Bevölkerung also ihren Willen demonstriert hat, werden die topografischen Vermessungen gemacht, worauf die Bevölkerung die Kanäle graben muss und vom Zentrallager der FIKRIFAMA das benötigte Material (Röhren, Zement, Wasserhahnen) geliefert wird. Eine Equipe der FIKRIFAMA bleibt während der rund dreiwöchigen Arbeiten im Dorf, gleichzeitig bildet sie Leute für den Unterhalt und für kleine Reparaturen aus. Die öffentlichen Zapfstellen werden umzäunt, mit Steinen gefüllt und mit Blumen verschönert. Die Leute sollen bei Beendigung stolz auf ihr Werk sein, dies garantiert auch den späteren Unterhalt der Anlage.

Laut den Erfahrungen der FIKRIFAMA hat das Projekt nur Erfolg, wenn die Finanzierung verfügbar ist (von internationalen Geldgebern), wenn die Dorfbewohner Initiative zeigen und Verantwortung übernehmen, wenn ein lokales Wasserkomitee existiert und wenn ein lokaler, unbestrittener Führer im Dorf lebt.

Das Projekt scheitert, wenn die Staatsverwaltung ins Spiel kommt oder eine soziale Organisation, welche die Arbeit für die Bevölkerung macht, also für die Arbeiten lokale Leute anstellt und ihnen ein Salär zahlt und somit nicht auf die Verantwortlichkeit der Gruppe baut.

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Der Ethnologe Franz Stadelmann kam 1988 als Entwicklungshelfer nach Madagaskar. 1994 gründete er das madagassische Reisebüro PRIORI in Antananarivo. PRIORI organisiert Reisen mit mehr Hintergrund und tieferen Einblicken in die Licht und Schatten dieser Insel im Indischen Ozean. 'Sanftes Reisen' soll den BesucherInnen als auch den Besuchten gegenseitiges Verständnis erwecken. PRIORI engagiert sich auch sehr im sozialen und kulturellen Leben Madagaskars. PRIORI steht für Ihre Reisepläne gern zur Verfügung - auch in deutscher Sprache.

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Franz Stadelmann

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